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Leseempfehlungen – Deutschlandradio Kultur vom 22.04.2016

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Nov
28

Deutschlandradio Kultur – Sendung „Lesart“ vom 22.04.2016

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Eine von Feiningers Kathedralen

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Sep
15

Jan Snela über die Buchhandlung H.P. Willi in Tübingen (veröffentlicht im Börsenblatt des Deutschen Buchhandels Nr. 37 am 15.9.2016 auf Seite 33 – der Text wird hier mit freundlicher Genehmigung des Verfassers und des Börsenvereins wiedergegeben)

 

Eine von Feiningers Kathedralen

Vom Lärm der Wilhelmsstraße ist nichts zu hören in der Buchhandlung H.P. Willi. Vielmehr ist die Stille perfekt, woran auch die Eingangsklingel, die recht gemächlich anhebt nach und nach zu verstummen, nichts ändert. Fast meinte man, den Anfang einer jener auf leise Weise gewaltig anhebenden Bachkantaten gehört zu haben. Linkerhand hinterm Verkäuferschreibtisch sitzt einer der drei hier im Wechsel Dienst habenden Männer, feingliedrig und diskret, jeweils mit Kneifer als Markenzeichen und der leicht vorgebeugten Haltung des Organisten, der vor den akustischen Mächten, über die er verzichtvoll gebietet, bescheiden sein Haupt beugt.

Denn in den orgelhohen Regalen findet man nicht nur die andernorts üblichen kläglich verminderten Mollakkorde vereinzelter Titel sondern von Heidegger gleich das gesamte kirchenmausgrau edierte Werk; alle Junius-Einführungen und Rowohlt-Monographien, gefühlt ausnahmslos alle Bücher der STW-Reihe; Derrida, Baudrillard, Lévinas, Bataille …; nicht nur eine sondern gleich drei verschiedene Ausgaben von „Zettels Traum“ und so manchen weiteren literarischen Klassiker, nach dem man anderswo vergeblich gefragt haben würde. Kurzum: die Konzentration aufs Wesentliche verbindet sich mit der Opulenz einer ehrfurchtgebietenden Klaviatur.

Wie viele mit der touristischen Motivation des profanen Bücherstöberns Hereingestolperte habe ich schon in heiliger Scheu erstarren gesehen in der Konfrontation mit der hiesigen Spielart eines als Hochamt begriffenen Buchhandels! Und auch mich beschleicht ja vor Ort immer wieder das Gefühl, dass ich, wenn nicht ein besserer, so doch ein klügerer, vergeistigterer, mehr einem der drei hier amtierenden Würdenträger ähnelnder Mensch geworden sein würde, sollte es mir jemals gelungen sein, all die hier zuhandenen Bücher zu lesen.

Aber für Gemütsverdunklung und Zerknirschung angesichts noch ausstehender Aletheia ist hier nicht der rechte Ort. Schließlich ist man in keiner kauernden Kartause gelandet, sondern fühlt sich weit eher so, als sei man in eine von Feiningers Kathedralen hineingeraten. Die hier herrschende Kirchenkühle kriecht nicht aus Mauern, sondern waltet im protestantisch geläuterten Äther selbst. Das Licht streicht in breiten Strahlen durch die Glasfassade und bricht sich verschiedentlich nuanciert auf den Flächen der in apollinischer Akkuratesse und mit viel Bedacht ausgelegten Bücher, unter denen man übrigens Batailles „Obszönes Werk“ wahrscheinlich sehr wohl, den allerorts üblichen sonstigen Schmuddelkram aber niemals finden würde.

Beichtstühle gibt es bei H.P. Willi, bei aller Regale füllenden Liebe zur Ökumene, natürlich nicht. Dafür, in einer der Ecken, eine Sitzgelegenheit, die alles, was ich an häuslichen Patriarchenthronen bisher zu Gesicht bekommen habe, weit überbietet; der Longin unter den Ohrensesseln sozusagen. Eine Beichte sei mir dennoch erlaubt: Wenn ich darin versinke, den grünen Herrenhosen-Cord seines Bezugs unter den Fingerkuppen und mit Blick auf die Reihe der an den Regalseiten angebrachten Würdenträger – von Archytas und Anthistenes über Calvin, Luther, Novalis und Schelling bis hin zu aktuelleren Geistesgrößen – komme ich mir trotz all der Jahre an der Titte der Alma Mater manchmal vor wie ein noch keinerlei Rede mächtiger kleiner Junge auf dem Schoss eines großen Mannes.

Jan, Snela, 1980 in München geboren, studierte Komparatistik, Slawistik und Rhetorik in München und Tübingen. Für die Titelgeschichte aus seinem im Frühjahr 2016 erschienenen Erzählband „Milchgesicht“ (Klett Cotta) ist er beim Open Mike-Wettbewerb prämiert worden.

Reuchlin im Streit um die Bücher der Juden

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Jun
8

 

Von Dr. Hans-Peter Willi

 

Einleitung

Vor fünfhundert Jahren erschien in Tübingen der „Augenspiegel“ von Johannes Reuchlin, gedruckt 1511 von Thomas Anshelm, dem zweiten Verleger der Universitätsstadt. Ungeachtet des geringen Umfangs dieser Schrift und ungeachtet der Tatsache, daß es sich dabei im Kern um ein juristisches Gutachten handelt, das in seiner Zeit nur eine einzige Auflage erlebte, ist dieses kleine Büchlein doch schon für die Jahre danach von außerordentlicher Bedeutung, und auch aus heutiger Sicht ist es mehr als nur historisch interessant. Das gilt erst recht von der Person des Autors: Johannes Reuchlin (1455-1522), der von seinen Zeitgenossen große Anerkennung und Verehrung, freilich auch großen Widerspruch erfuhr, den Herder und Goethe rühmten und der bis heute als „Deutschlands erster Humanist“ bezeichnet wird. Reuchlins Geburtsstadt Pforzheim pflegt sein Andenken in vielfältiger Weise: von einem Denkmal und einem „Museum Johannes Reuchlin“ (eröffnet 2008) über Tagungen und die alle zwei Jahre stattfindende Verleihung des Reuchlinpreises (seit 1955; die Liste der Preisträger ist beachtlich) bis hin zu den bei Thorbecke erscheinenden „Pforzheimer Reuchlinschriften“. Die wissenschaftliche Erforschung von Leben und Werk Reuchlins spiegelt sich nicht nur in der stark anwachsenden Sekundärliteratur, sondern auch in der historisch-kritischen Ausgabe seines „Brief-wechsels“ und seiner „Sämtlichen Werke“ (seit 1996 bei Frommann-Holzboog). Im auffallenden Gegensatz dazu steht die beinahe vollständige Abwesenheit Reuchlins in der schulischen Bildung und im Allgemeinwissen in Deutschland. Man darf erfreut sein, wenn ein deutscher Schulabgänger mit den Namen Erasmus von Rotterdam oder Philipp Melanchthon etwas anzufangen weiß – doch man darf nicht davon ausgehen, daß er auch den Namen Reuchlin kennt. Vor diesem Hintergrund wende ich mich dem Thema „Johannes Reuchlin und sein Augenspiegel“ zu. Im 1. Kapitel will ich einen kurzen Abriß zu Leben und Werk von Johannes Reuchlin geben. Das 2. Kapitel enthält einen Überblick über den Streit um die Bücher der Juden, in den Reuchlin ab 1510 verwickelt wurde, als er vom Kaiser um ein Gutachten in dieser Sache gebeten wurde. Das 3. Kapitel besteht aus zwei Teilen: Im ersten Teil soll die Drucklegung durch den „Verleger“ Thomas Anshelm im Vordergrund stehen (die äußeren Umstände), bevor im zweiten Teil Gliederung und Inhalt des „Augenspiegel“ vorgestellt werden (die inneren Aspekte). Daran schließt sich das 4. und letzte Kapitel an, in dem ich darzustellen versuche, worin ich die Bedeutung von Reuchlins „Augenspiegel“ in unserer Zeit sehe.

 

1. Johannes Reuchlin – Abriß zu Leben und Werk

Johannes Reuchlin wurde am 29. Januar 1455 in Pforzheim geboren. Seine Geburtsstadt hat Reuchlin immer in Ehren gehalten; zeit seines Lebens setzte er seinem Autorennamen die Herkunftsbezeichnung hinzu: „Johannes Reuchlin Phorcensis“, so daß es durchaus angemessen wäre, ihn „Johannes von Pforzheim“ zu nennen – ähnlich wie bei Erasmus von Rotterdam, der 1469 in Rotterdam geboren wurde und mit dem zusammen Reuchlin als das Haupt des deutschen Humanismus gilt. Bisweilen hat Reuchlin sich auch „Capnion“ genannt; in dieser Form steckt das griechische Wort „kapnos“, Rauch, und Capnion ist ein kleiner Rauch, ein „Räuchlein“ oder „Reuchlin“ (Brod, 44). Reuchlins Vater Georg war „weltlicher ziviler Administrator, Stiftsverwalter“ des Domini-kanerordens (auch Praedikanten-, also Predigerorden genannt), dessen Kloster erstmals 1294 für Pforzheim erwähnt wird – im späteren Streit um die Bücher der Juden wird dieser Orden (mit seinen Kölner Gelehrten und Geistlichen) für Reuchlin noch eine besonders heikle Rolle spielen (Brod, 40).

In Pforzheim besuchte Reuchlin die Lateinschule, bevor ihn sein Studium nach Freiburg, Paris und Basel führte, wo er sein Studium der septem artes liberales 1477 mit dem „Magister Artium“ ab-schloß. Darauf aufbauend begann Reuchlin sein Jurastudium; 1481 erwarb er darin in Poitiers das Lizentiat, ca. 1485 in Tübingen den Grad des „Doctor Legum“. An der Tübinger Universität hatte er sich 1481/82 eingeschrieben; seit diesem Jahr stand er als enger Berater und später als Mitglied des Hofgerichts auch im Dienst des Grafen von Württemberg, Graf Eberhard im Bart, der 1477 die Universität mit seinem Wahlspruch „attempto – ich wag’s“ ge-gründet hatte.

Zugleich trieb Reuchlin seine philologischen Studien weiter: „Der Umgang mit byzantinischen Gelehrten erschloß ihm das Griechi-sche, der mit gelehrten Juden seit 1482 auch das Hebräische“ (Kienzler, BBKL VIII, 1994, 77). Hervorzuheben sind seine Reisen mit Graf Eberhard nach Rom, wo er mit Papst Sixtus IV. über Existenz und Organisation der Tübinger Universität verhandelte; bei späteren Italienreisen kam es zu den legendären Begegnungen mit Marsilio Ficino (1495 und 1498), Pico della Mirandola und dem berühmten Drucker und Verleger Aldus Manutius (1498), die Reuchlin zum wichtigsten Vertreter des Renaissance-Platonismus nördlich der Alpen werden ließen, wozu auch die hohe Wertschät-zung der Kabbala und überhaupt der jüdischen Mystik gehörte. Lilli Zapf urteilt: „Die Bedeutung Reuchlins für das Judentum liegt darin, daß er sich als erster christlicher Gelehrter des Mittelalters dem Studium der hebräischen Sprache widmete und sie neben dem Griechischen an deutschen Universitäten lehrte“ (Zapf, 17). Weiter notiert sie: „Sein Lehrer des Hebräischen war der jüdische Leibarzt Kaiser Friedrichs III., Jakob ben Jechiel Loans. Ihm verdankte er sein profundes Wissen um die jüdische Religion. In seiner Schrift >Rudimenta hebraica< (Pforzheim 1506) wandte er sich an die christlichen Theologen, um ihnen den hebräischen Urtext des Alten Testaments zu vermitteln. In >De arte cabalistica< (Hagenau 1517), das er dem Ruhm seines Hebräischlehrers Loans widmete, trat er antijüdischen Verleumdungen entgegen und führte mit dem weisen Simon – lange vor dem Nathan Lessings – die Gestalt des guten Juden in die Literatur ein … Reuchlin war es auch, der die hebräische Sprache als die älteste, reinste, schönste und heiligste Sprache bezeichnete“ (Zapf, 17f). Ohne selbst in seinen letzten Lebensjahren (Johannes Reuchlin stirbt am 30. Juni 1522) zu einem Anhänger Luthers und der Reformation zu werden, ist Reuchlin gleichwohl zu den Wegbereitern der Reformation zu zählen, u.a. weil er mit seinen griechischen und insbesondere mit seinen hebräischen Forschungen und Lehrbüchern die Grundlagen dafür geschaffen hat, die hebräischen und griechischen Urtexte der Bibel zu lesen, zu übersetzen und zu interpretieren. Zur Illustration der Bemühungen Reuchlins um die hebräische Sprache zitiert Zapf Ludwig Geiger: Reuchlin „lernt die Sprache bei deutschen und hebräischen Juden, denen er ohne Verachtung naht, ja denen er als seinen Meistern dankbare Verehrung bezeugt; er verschafft sich in Italien hebräische und chaldäische Bücher und notiert gewissenhaft Zeit und Ort des Ankaufs, um beim Anschauen seiner Schätze sich die schönen Augenblicke der ersten Bekanntschaft zurückzurufen; er unterrichtet durch Schrift und Wort privatim, dann öffentlich die herbeiströmenden Jünger, er unterzieht sich mühsamen, hand-werksmäßigen Arbeiten, Interlinearübersetzungen, kleinen Textedi-tionen“ (zitiert nach Zapf, 18).

Im Jahr 1492 wurde Reuchlin geadelt: am kaiserlichen Hof in Linz erhielt er die Adels- und Hofpfalzgrafenwürde. Nach dem Tod Graf Eberhards im Bart floh Reuchlin 1496 nach Heidelberg; dort kam er mit dem Humanisten Jakob von Wimpfeling zusammen. Nebenbei sei erwähnt, daß Reuchlin sich in seiner Heidelberger Zeit auch literarisch betätigte und u.a. die Bauernkomödie „Henno“ in lateinischer Sprache schrieb (von Hans Sachs als Fastnachtsspiel bearbeitet). Dieses Werk gilt als bedeutend, weil Reuchlin damit den Schritt vom Dialog zum Drama vollzog und so zu einem der Begründer des sogenannten „Schuldramas“ wurde.

Philologie und Rechtswissenschaft prägen auch den weiteren Le-bensweg Reuchlins. Seit 1500 wirkte Reuchlin in Stuttgart. Von 1502 bis 1513 war er als Richter des Schwäbischen Bundes – dieser war 1488 auf Veranlassung Kaiser Friedrichs III. gegründet worden – tätig; damit war Reuchlin einer der führenden Richter im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation.

Gefragt waren Reuchlins allseits anerkannte sowohl juristische als auch philologische Kompetenz, als er 1510 von Kaiser Maximilian I. um ein Gutachten im Streit um die Bücher der Juden gebeten wurde. Dieser Streit soll im nächsten Kapitel skizziert werden. Im Zusammenhang der Darstellung von Leben und Werk Reuchlins ist zu sagen, daß dieser Streit sein letztes Lebensjahrzehnt entscheidend geprägt und weitgehend verdüstert hat. Zwar blieb Reuchlin in diesem Streit der moralische Sieger, zumindest was die europäische Geisteswelt betrifft, aber die persönlichen und von Seiten der Kirche massiven Angriffe setzten ihm erheblich zu. Durch den kirchlichen Prozeß, der ihm gemacht wurde, drohte ihm die Exkommunikation, die schließlich ausblieb, und die Verurteilung seiner Schriften, die im Blick auf den „Augenspiegel“ durch päpstliche Verfügung im Jahr 1520 eintrat. Verarmt floh Reuchlin 1520 vor Krieg und Pest nach Ingolstadt; an die dortige Universität wurde er als Professor des Griechischen und Hebräischen berufen; 1521 folgte er einem Ruf nach Tübingen. Am 30. Juni 1522 starb Reuchlin in Stuttgart (nach anderer Überlieferung in Bad Liebenzell, wohin er zur Kur reiste). In der Stuttgarter Leonhardskirche liegt er begraben; ein Epitaph erinnert dort bis heute an ihn.

 

2. Der Streit um die Bücher der Juden ab 1510

In seiner „historischen Monographie“ mit dem sprechenden Titel „Johannes Reuchlin und sein Kampf“ stellt Max Brod seinen Ka-piteln über den Streit um die Bücher der Juden, in den Reuchlin seit 1510 verwickelt wurde, ein Kapitel voran, in dem er die „Rechtslage und [den] Zustand des jüdischen Volkes in Deutschland“ vor dem Hintergrund der vorangegangenen Entwicklung darstellt. Ohne diese Vorgeschichte ist dieser Streit nicht richtig zu verstehen. Darauf kann hier nur stichwortartig hingewiesen werden. Seit der Zerstörung des Tempels (70) und dem Scheitern des Bar-Kochba-Aufstandes (135) sind die Juden staaten- und heimatlos; bis zur Neugründung des Staates Israel im Jahr 1948 befindet sich das jüdische Volk in einer Diaspora-Existenz verstreut und ist völlig abhängig von der jeweils ausgeübten Politik an den jeweiligen Orten und unter den Bedingungen der jeweils herrschenden Zeitläufte „in wechselnden Gefährlichkeitsgraden“ (Brod, 149). Während die Römer noch im Großen und Ganzen recht großzügig im Blick auf die von ihnen besiegten Völker verfuhren (Teilnahme am Bürgerrecht, Religionsfreiheit), steht das „Schicksal der Juden in Deutschland“, im Heiligen Römischen Reich (Deutscher Nation), besonders seit der Zeit der Kreuzzüge und so auch zur Zeit Reuchlins „auf des Messers Schneide“ (Brod, 149). Ein jahrhunder-telanger Prozeß der Entrechtung (so wird zum Beispiel das Recht auf Arbeit erheblich eingeschränkt und auf wenige Ausnahmen wie das Zinsnehmen und den Trödel beschränkt: Tätigkeiten, die eben-so mit hohen Abgaben an die Herrschenden verbunden sind wie mit Gefühlen des Neides und der Verachtung im gesellschaftlichen Umfeld) geht einher mit religiös motivierten Anfeindungen, die sich aus dem Spannungsfeld von jüdischem und christlichem Glauben nähren: die Juden gelten als das Volk, das Jesus Christus ans Kreuz gebracht hat und das sich dem christlichen Glauben gegenüber als verstockt erweist. Entstaatlichung und Entrechtung der Juden gehen Hand in Hand; sie sind der Willkür der jeweils herrschenden Mächte ausgeliefert und oft genug an Leib und Leben bedroht, erleiden Enteignungen, Vertreibungen und Pogrome.

Zwei Ereignisse müssen in unserem Zusammenhang besonders erwähnt werden: Zum einen die „Anklageartikel Papst Gregors IX. gegen den Talmud (1239), welche zur bekannten Talmuddisputation und großen Talmudverbrennung in Paris (1240-1242) führen“ (Brod, 163). Dieser Vorgang zeigt, daß der Streit um die Bücher der Juden eine Vorgeschichte hat; den Anstoß zur Talmudverbrennung „hatte auch damals ein getaufter Jude (Donin) gegeben“ (Brod, 199). Zum anderen soll beispielhaft für die Lage der Juden deren Vertreibung aus Tübingen unter Graf Eberhard im Bart in Erinnerung gerufen werden. Diese Vertreibung fand 1477 im Jahr der Tübinger Universitätsgründung durch Graf Eberhard im Bart statt: Dieser in vielerlei Hinsicht hochgesinnte Mann, der den Wis-senschaften so aufgeschlossen gegenüber stand und in Tübingen eine Universität ins Leben rief, um zu „helfen zu graben den Brun-nen des Lebens“ (Katalog), hat wie viele Territorialfürsten seiner Zeit auch eine insgesamt judenfeindliche Politik betrieben, die in der geschichtlichen Beurteilung aus heutiger Sicht einen nicht zu tilgenden Makel für ihn selbst und zumindest indirekt auch für die Tübinger Stadt und Universität bedeutet. Wie hat Reuchlin sich zur Judenvertreibung durch Eberhard im Bart verhalten? Klar ist, daß Reuchlin erst vier bis fünf Jahre nach der Judenvertreibung seinen Dienst bei Graf Eberhard im Bart begonnen hat. Lilli Zapf schreibt in ihrem Buch über die „Tübinger Juden“: „Obwohl Reuchlin der Freund, Agent und Rechtsrat des Grafen Eberhard im Bart gewesen ist …, haben wir keine Nachricht darüber, daß er auf die antijüdische Politik seines Herrn Einfluß gehabt hätte“ (Zapf, 17).

Direkter Anlaß für den Judenbücherstreit bildet das Ansinnen eines zum Christentum konvertierten, um das Jahr 1504 im Alter von ca. 36 Jahren getauften, später in Köln wohnhaften Juden namens Johannes Pfefferkorn (vor der Taufe hieß er Josef; vgl. zu Pfeffer-korn die Studie von Hans-Martin Kirn, bes. 9ff). Dieser trat in seinem Übereifer dafür ein, den Juden ihre meist noch in Hand-schriften überlieferten Bücher (der Buchdruck war ja erst wenige Jahrzehnte alt, und das erste in Deutschland gedruckte Buch mit beweglichen hebräischen Lettern war das 1506 in Pforzheim von Thomas Anshelm hergestellte Lehrbuch Reuchlins „De rudimentis hebraicis“) mit Ausnahme der biblischen Bücher (die wir das Alte Testament zu nennen gewohnt sind) zu konfiszieren, weil sie da-durch nur in ihrem „Unglauben“ bestärkt würden, und insbesonde-re die gegen das Christentum gerichteten zu verbrennen. 1507 begann Pfefferkorn mit seinen Angriffsbüchern gegen das Juden-tum („Judenspiegel“, so Brod 183). Brisanz erhielt Pfefferkorns Attacke dadurch, daß sich die geistliche Macht in Gestalt des Kölner Dominikanerordens unter der Führung seines Priors mit ihr verbündete und bis zum Ende des Streits um 1520 mit ihr verbün-det blieb. „Den entscheidenden Schritt von der Theorie zur Praxis tat Pfefferkorn, als er sich im Jahre 1509 an Kaiser Maximilian I. wandte, um die Konfiskation der hebräischen Bücher in den jüdi-schen Gemeinden durchzusetzen“ (Brod, 190). Tatsächlich erreichte Pfefferkorn am 19.8.1509 ein kaiserliches Mandat, das ihn ermächtigte, mit seinem Vorhaben zu beginnen. 1509 kam es auch zur (vermutlich) ersten Begegnung zwischen Reuchlin und Pfeffer-korn, der den hebräischkundigen Gelehrten in Stuttgart besuchte und ihn gewinnen wollte. „Von Stuttgart begab sich Pfefferkorn, durch Reuchlins Einwände unabgeschreckt, nach Frankfurt und begann da mit kaiserlicher Vollmacht … zu konfiszieren“ (Brod 195) – weitere Stationen sind u.a. Worms und Mainz. In der Folge kam es zu weiteren Mandaten des Kaisers, die kennzeichnend sind für den weiteren Verlauf und die Haltung des Kaisers, welche stark durch Wankelmütigkeit bestimmt ist. Auf der einen Seite versuchte der Kaiser, die Angelegenheit zu delegieren (so an den Erzbischof von Mainz) oder auf die lange Bank zu schieben, zum anderen wurde vom Kaiser die Rückgabe der konfiszierten Bücher an die Juden angeordnet, was auch tatsächlich weitgehend geschah. Brod notiert: „für die Juden war die ganze Geschichte jedenfalls im wesentlichen erledigt. Sie hatten ihre Bücher wieder – und das war für sie die Hauptsache“ (Brod 197f). „Der prinzipielle Streit aber … über den Wert und Unwert der talmudischen, kabbalistischen und anderen Schriften“ begann jetzt erst eigentlich, jedoch berührte er in der Folge die Juden nicht mehr direkt (Brod 198).

Der nächste Schritt bestand darin, daß der Mainzer Erzbischof Gutachten für den Kaiser in Auftrag gab (12.8.1510). Verschiedene Institutionen, Universitäten und Gelehrte wurden um Gutachten gebeten; darunter auch Reuchlin. Für die Beauftragung Reuchlins mögen folgende drei Faktoren eine Rolle gespielt haben: Zum einen war Reuchlin ein am Hof bekannter und höchst angesehener Jurist (zu diesem Zeitpunkt einer der Richter des Schwäbischen Bundes). Zum anderen war Reuchlin einer der wenigen christlichen Gelehrten, der als „miraculum trilingue“ (dreisprachiges Wunder – so wurde er von seinen Zeitgenossen angesehen) nicht nur des Lateinischen und Griechischen, sondern auch des Hebräischen mächtig war. Damit war Reuchlin praktisch der einzige Gutachter, der aufgrund eigener Sprach- und Quellenkenntnisse die Bücher zumindest teilweise kannte, über die er zu urteilen hatte – alle anderen Gutachter hatten nicht viel mehr als ihre Vorurteile, auf die sie sich stützen konnten. Zum dritten schließlich hatte Reuchlin in früheren Äußerungen durchaus zu erkennen gegeben, daß er in theologischer Hinsicht über die Juden in genau den Begriffen dachte, die bis dahin den Standard in der christlichen Welt ausmachten: Demnach war das Elend der Juden in erster Linie durch ihre Verstocktheit gegenüber dem christlichen Glauben bedingt, und ihr Heil wurde einzig in ihrer Bekehrung gesehen: in ihrer Erleuchtung durch Gott, in ihrer Hinwendung zum christlichen Glauben und in ihrer Taufe.

In diesem Zusammenhang ist an Reuchlins kleine Schrift „Tütsch Missive, warumb die Juden so lang im ellend sind“ von 1505 zu erinnern, die sich noch ganz in den gewohnten Bahnen des histori-schen Umfelds bewegt und sogar den Vorwurf enthält, daß die Juden in ihren täglichen Gebeten (18-Bitten-Gebet) Gotteslästerung treiben. Allerdings unterscheiden sich Reuchlins Gedanken in dieser Schrift bereits wohltuend von vielen früheren und zeitgenössischen Äußerungen anderer Autoren, was auch Max Brod hervorhebt: Reuchlin kommt „zu ganz anderen Schlußresultaten“: er überschreitet nicht die Grenze zur Gewalt und gelangt nicht dazu, „die Vertreibung der Juden aus dem Lande, ihre Beraubung, das Niederbrennen ihrer Gotteshäuser usw. zu verlangen“ (Brod, 173). Und dennoch: 1505 behauptet Reuchlin in vielerlei Hinsicht „das Gegenteil von dem, was er fünf Jahre später“ dargelegt hat. Bis „fast an sein Lebensende haben ihm seine erbitterten Gegner vor-geworfen, daß er im >Missive< strenger mit den Juden ins Gericht gegangen sei als im späteren >Augenspiegel<“ (Brod, 172). Indirekt wird so erkennbar, was neben den juristischen und philologischen Kenntnissen Reuchlins ausschlaggebend für seine Beauftragung als Gutachter war: Bis 1509 war Reuchlin trotz seiner bekannten Liebe zur hebräischen Sprache und Literatur noch nicht als jemand aufgefallen, der prinzipiell mit dem herrschenden Konsens in der Meinung über die Juden gebrochen hatte. Insofern ist Reuchlin durchaus auch Kind seiner Zeit, und in seinen Schriften – das soll nicht verschwiegen werden, wenn es um historische Wahrheit geht – ist manches zu finden, was ihn uns Heutigen fremd und kritikwürdig erscheinen läßt. Das gilt auch für manche Äußerung nach dem „Augenspiegel“. Doch insgesamt bleibt die Tatsache bestehen, daß Reuchlin sich im entscheidenden Moment, als es galt, Farbe zu bekennen, selbst korrigierte und für die Sache der Juden eingetreten ist – und das zu einem Zeitpunkt und unter Umständen, als er bereits Mitte fünfzig war und von dieser ganzen Angelegenheit keinerlei Vorteile, sondern mit seiner abweichenden Haltung nur Nachteile zu erwarten hatte. So handelt nur einer, der sich allein der von ihm erkannten Wahrheit verpflichtet weiß und der all seine Kompetenz dafür einsetzt, dieser Wahrheit zum Recht zu verhelfen. Gerade das macht ihn auch heute zu einem weithin leuchtenden Vorbild. Brod selbst urteilt: „Warum aber sollte es einem redlichen Mann nicht erlaubt sein, seine Irrtümer einzusehen und zu korrigieren? Reuchlin hatte eben in der Zwischenzeit vom >Missive< 1505 bis zum Gutachten 1510 in jüdischen Angelegen-heiten sehr viel hinzugelernt, hat Quellenstudium getrieben und im Nachdenken dieser Quellen eine vorher ungeahnte Reife erlangt; in diese Zeit fällt ja unter anderem seine Beschäftigung mit den >Rudimenta<, die gerade während dieser Übergangszeit, nämlich 1506 erschienen sind“ (Brod, 172).

Am 6.10.1510 beendete Reuchlin sein Gutachten für den Kaiser unter dem Titel „Ratschlag, ob man den Juden alle ihre Bücher nehmen, abtun und verbrennen soll“. Dieses Gutachten haben wir uns als handschriftliches Dokument vorzustellen (wie die anderen Gutachten auch), das nicht für die Öffentlichkeit, sondern für den Kaiser und seinen Beraterkreis bestimmt war. Reuchlin hat sein Gutachten in deutscher Sprache verfaßt – vermutlich, weil der Kaiser selbst der lateinischen Sprache nicht richtig mächtig war. Ab-weichend von allen anderen Gutachten, die sich in unter-schiedlichem Umfang, aber insgesamt „aufs entschiedenste gegen die hebräischen Bücher“ aussprechen, ist die „Antwort Reuchlins ein klares, wohlmotiviertes >Nein<“ (Brod, 199; zum Inhalt Näheres im folgenden Kapitel). Noch im Oktober 1510 wurden die Gutachten vom Mainzer Erzbischof an den Kaiser weitergeleitet. Es geschah aber erst einmal gar nichts; der Kaiser bekundete nur seine Absicht, ein Gutachten über diese Gutachten einholen und einem Reichstag vorlegen zu wollen (wozu es aber dann doch nicht kam).

In eine völlig neue, äußerst brisante Dimension tritt die Angele-genheit mit der Veröffentlichung von Reuchlins Gutachten im Jahr 1511. Erst seit diesem Jahr kann man von einem öffentlich ausge-tragenen Streit sprechen, der fast ein Jahrzehnt andauerte und das gebildete Europa in zwei Lager teilte – man kann sagen: für und wider die hebräischen Bücher, aber immer auch: für oder wider die Person Reuchlins. Aus heutiger Sicht spricht man unter den Bedin-gungen der damaligen „kommunikativen Konstellationen“ geradezu von einem „Medienereignis“. So etwas hatte es bis dahin in dieser Form noch nicht gegeben. Eine der wesentlichen Bedingungen ist der noch recht junge Buchdruck mit seinen neuartigen Möglich-keiten der Verbreitung und Schaffung dessen, was wir „Öffentlich-keit“ nennen. In diesem Streit spielen schon die Faktoren und Mechanismen eine wesentliche Rolle, die wenige Jahre später der Reformation zum Durchbruch verhelfen sollten. Bezeichnender-weise wird es auch erst dann ruhig um die Bücher der Juden und um Reuchlin, als der mit der Reformation entfachte Streit die Gemüter zu bewegen beginnt. Die Verurteilung von Reuchlins „Augenspiegel“ steht am Ende dieses Streites. Diese Verurteilung, die tatsächlich 1520 eintrat, ist wohl nur hinreichend zu verstehen, wenn man die Sorge des päpstlichen Stuhles in Rom berücksichtigt, die Haltung Reuchlins könne mit der reformatorischen Bewegung im Zusammenhang stehen und ihr Vorschub leisten (obwohl Reuchlin selbst zur Reformation auf Distanz blieb und sich in seinen letzten Lebensjahren sogar noch zum Priester weihen ließ). Damit hatte sich der Streit weit von seinem Ausgangspunkt entfernt und war nicht der Wahrheitsliebe, sondern taktischen und politischen Motiven geschuldet. Dazu paßt die Tatsache, daß diese Verurteilung zu einem Zeitpunkt kam, als sich im Grunde kaum jemand mehr dafür interessierte und eine neue Zeit sich mit ganz anderen, neuen Themen auseinanderzusetzen hatte. Aus heutiger Sicht wird man zusammenfassend wohl urteilen dürfen: Ein Medienereignis wird durch ein anderes verdrängt, andere Themen kommen auf die Tagesordnung, ohne daß das vorangegangene Problem wirklich gelöst wurde – Parallelen zum heutigen Medienbetrieb sind unübersehbar.

Es ist nicht Reuchlin, der den ersten Schritt in die Öffentlichkeit unternimmt, sondern Pfefferkorn. Johannes Pfefferkorn „besaß die unglaubliche Frechheit, die Argumente, die Reuchlin in seinem ver-siegelten Gutachten zugunsten der hebräischen Bücher vorgebracht hatte, in extenso zu veröffentlichen, indem er gegen sie polemisierte. Dazu hatte er kein Recht. Das Dokument war dem Erzbischof zur Überbringung an den Kaiser anvertraut worden. Es ist fraglich, ob es in Pfefferkorns Amtsbefugnis lag, diesen >Ratschlag< zu lesen. Es ist nicht fraglich, daß er ihn oder seine Gedankengänge nicht hätte öffentlich bekanntgeben dürfen“ (Brod, 203). Die entsprechende Schrift von Pfefferkorn wurde Anfang 1511 gedruckt und erschien zur Frühjahrs-Buchmesse in Frankfurt am Main.

Nicht nur die Indiskretionen als solche erregten den Zorn Reuch-lins, sondern auch die zahlreichen polemischen Angriffe gegen Reuchlin, die in Pfefferkorns „Handspiegel“ von jedermann zu lesen waren. Darin hat Reuchlin nicht nur formal einen Vertrauensbruch und eine Verletzung des laufenden Verfahrens gesehen, sondern er hat darüber hinaus sowohl inhaltlich seine eigenen Thesen als auch sich persönlich angegriffen gesehen.

Zunächst blieb Reuchlin im Rahmen des bisher eingeschlagenen Weges: er intervenierte beim Kaiser und forderte entsprechende Maßnahmen gegen Pfefferkorn. Erst als diese ausblieben und sich abzeichnete, daß die Sache erneut auf die lange Bank geschoben wurde, begab sich Reuchlin in die Öffentlichkeit. Er trat sozusagen die Flucht nach vorn an, indem er – der geschulte Jurist – seine Verteidigung selbst in die Hand nahm. Die Vorwürfe von Pfeffer-korn standen ja bis dahin widerspruchslos im Raum. Das Ergebnis ist die im August oder September 1511 gedruckte Schrift „Augen-spiegel“, die zur Herbst-Buchmesse in Frankfurt am Main großes Aufsehen erregte. Darin ließ Reuchlin zum einen sein Gutachten in der ursprünglichen Fassung, also in Deutsch, abdrucken, um seine Gedanken ohne die Verzerrungen durch Pfefferkorn in ihrem Zu-sammenhang bekannt zu machen; zum anderen verteidigte sich Reuchlin gegen die Kritik von Pfefferkorn und griff diesen dann auch direkt an, indem er – jetzt vor den Augen der Öffentlichkeit – gegen ihn ein zivil- und strafrechtliches Vorgehen verlangte (Nähe-res im folgenden Kapitel).

Bevor wir in der Schilderung des Streites fortfahren, wollen wir kurz innehalten und würdigen, was für Reuchlin dieser Streit persönlich bedeutet hat. Brod kennzeichnet die (Entscheidungs-) Situation Reuchlins treffend: „Er fühlte sich krank, fühlte sich, wiewohl erst 50 [56] Jahre alt, sehr alt. Er hätte den Rest seines Lebens gern in wissenschaftlicher Forschung und gelehrter Muße verbracht; jetzt sah er sich erbittertem Streit ausgesetzt. Alles, was er ersehnt, ist Frieden, friedliches Studium. … Er wollte die gelehrte Ruhe. Auf ihn wartete sich steigernde Unruhe“ (Brod, 226).

In der Folgezeit rückt der Streit immer mehr ab von der eigentlichen Sache, von der aus sie ihren Ausgangspunkt genommen hat – die Bücher der Juden – und konzentriert sich immer mehr auf Reuchlin selbst und seinen „Augenspiegel“. Im Grunde verstand ja auch kaum jemand wirklich etwas von den jüdischen Büchern. Letztlich steht immer weniger die Frage nach Wahrheit und Gerechtigkeit im Vordergrund, sondern die nach Macht und Durchsetzungskraft. Man ist dabei nicht zimperlich, alle Register werden gezogen. Zum Beispiel verschafft sich Pfefferkorn die Erlaubnis des Frankfurter Stadtpfarrers, vor der Kirche gegen Reuchlins Buch zu predigen. Die Dominikaner in Köln stellen sich mit all ihren Machtmitteln hinter Pfefferkorn; neben Hochstraten ist der Name Arnold von Tongern zu nennen. Reuchlin, der die Mechanismen der Macht durch seine richterliche Tätigkeit am Hof kannte und durchschaute, ohne darüber selbst ein reiner Machtmensch zu werden, versuchte zunächst vergeblich, sich die Unterstützung der maßgeblichen Akteure auf persönlichem und diplomatischem Wege zu sichern, indem er sich selbst so weit wie möglich zurücknahm, auch die Thesen seines „Augenspiegel“ zu entschärfen suchte, ohne im Kern der Sache nachzugeben. Erst als das scheiterte, begab sich Reuchlin mit offenem Visier in die nun voll entbrennende Schlacht. Zunehmend verbündete sich die ganze Macht der lang erprobten „mittelaterlichen Inquisitions-Methoden“ gegen ihn, um ihn zu verurteilen und mundtot zu machen.

Ging es anfangs noch darum, daß Reuchlin dazu bewegt werden sollte, einzelne Thesen seines „Augenspiegel“ zu entschärfen oder zurückzunehmen, verschärfte sich die Angelegenheit nochmals, als die Kölner ihre Taktik änderten und von Reuchlin die völlige Rück-nahme seines „Augenspiegel“ forderten: „Er solle dafür sorgen, daß zur nächsten Frankfurter Messe das Buch … aus dem Handel gezogen sei. Keine neue Auflage solle erscheinen, kein Exemplar mehr verkauft, der Inhalt widerrufen werden, der Autor möge öf-fentlich erklären, daß er ein Gegner des Talmud sei. Tue er das nicht, so werde man ihn vor ein Ketzergericht vorladen müssen“ (Brod, 231). Zum einen drohte also Reuchlins persönliche Verur-teilung als Ketzer – diese blieb letztlich aus –, zum anderen drohte die Verurteilung seiner Schriften, vor allem des „Augenspiegel“ – diese trat im Jahr 1520, zwei Jahre vor Reuchlins Tod, durch Papst Leo X. ein.

Freilich konnte auch Reuchlin zahlreiche Unterstützer und Be-schützer um sich scharen. Immer mehr wichtige Stimmen, die Vorboten eines neu anbrechenden Zeitalters waren, machten sich für Reuchlin stark, nicht zuletzt in den Zentren der weltlichen (Hof), der geistigen (Universitäten) und der geistlichen Mächte. Die großen Humanisten wie Erasmus von Rotterdam, Mutian und Pirckheimer standen von Anfang an auf der Seite Reuchlins, auch dann, wenn sie selbst weniger Sympathie für die Juden und ihre Bücher hatten als vielmehr für den in der Gelehrtenwelt hoch angesehenen Reuchlin und für die von ihm repräsentierten Werte. Eine Zeitenwende bahnte sich an: Das alte, noch sehr machtvolle Zeitalter stand gegen ein neues, immer mehr um sich greifendes. Die Tendenz, daß sich der Streit immer mehr ablöste von dessen Anlaß und Sache und sich stattdessen auf die Geisteshaltung konzentrierte, wie sie Reuchlin verkörpete, ist nicht nur auf Seiten seiner Widersacher und Gegner, sondern auch auf Seiten seiner Befürworter und Verteidiger zu beobachten. Unübersehbar ist diese Tendenz in den sogenannten „Dunkelmännerbriefen“, deren erster Teil 1515 erschien, der zweite Teil 1517, im Jahr des Thesenanschlags Luthers.

Der Titel „Epistulae obscurorum virorum“ lehnt sich an eine ein Jahr zuvor erschienene Sammlung von Briefen an, die an Reuchlin gerichtet waren: „Clarorum virorum Epistolae“ (gedruckt 1514). Durch die Dunkelmännerbriefe, als deren hauptsächliche Verfasser man Crotus und Hutten vermutet (Brod, 246), wird ein völlig neuer Ton in der Debatte angeschlagen, der das geistige Europa in seinen Bann zieht und die Zeitenwende unüberhörbar signalisiert. Sehr treffend hat David Friedrich Strauß die in den Dunkelmännerbriefen verwendete Art der Satire als „mimische“ bezeichnet, Friedrich Vischer sprach auch von „indirekter Satire“ (nach Brod, 244). Im Kern geht es darum, den Gegner mit seinen eigenen Waffen zu schlagen: Durch übertriebene und ins Lächerliche hineinziehende Nachahmung der „alten“ Denkweise wird diese in Gestalt von fiktionalen Briefen, in denen nach alter Manier kalauernde Mönche immer wieder auf die Reuchlin’sche Affäre zu sprechen kommen, dem Hohn und Spott preisgegeben, so daß sie am Ende in sich selbst zusammenstürzt, ohne daß dazu weitere kritische Argumente von außen nötig sind. Die Dunkelmännerbriefe wurden schlagartig zu einer literarischen Sensation, die innerhalb kürzester Zeit zahllose Nachahmer gefunden hat und die einen wesentlichen Anteil daran hat, daß das überholte System totalitärer und heuchlerischer Inquisition seine innere Hohlheit auf die Weise offenbarte, daß seinem Zusammenbruch unter Gelächter applaudiert werden konnte. „Die Erschütterung, die von den Dunkelmännerbriefen ausging, brachte den Sieg der humanistischen Richtung über die alte Scholastik, der längst vorbereitet war, unerwarteterweise, gerade durch den Überraschungseffekt zu populärer Wirkung. Sie machte diesen Sieg volkstümlich. Die Humanisten [zu denen Reuchlin selbst zählte] waren eine aristokratische Sippschaft, eine >Gelehrtenrepublik<. Mit den Dunkelmännerbriefen wandten sie sich an plebejische Instinkte. Ein Übergang zu dem breitströmenden Erregtsein der später einsetzenden Reformation war geschaffen. Die Scholastik, hier ungerecht genug mit dem Treiben ungebildeter und kulturloser Mönche identifiziert, wurde einfach weggelacht“ (Brod, 244).

Im Vergleich zu dieser Entwicklung ist es kaum eine Randnotiz wert, daß in Köln Reuchlins „Augenspiegel“ tatsächlich verurteilt und verbrannt wurde. Ähnliches geschah auch in Mainz – doch groteskerweise wird dort die schon angesetzte Verbrennung durch einen Boten in allerletzter Minute gestoppt. Daß der Streit inzwi-schen eine Dimension erreicht hatte, die völlig aus dem Ruder ge-laufen war, ist auch daran erkennbar, daß selbst Ereignisse, die für Reuchlin zunächst günstig schienen, keinen dauerhaften Bestand haben: Im März 1514 spricht das Bischofsgericht in Speyer – der Papst hatte die Sache an die Bischöfe von Speyer und Worms dele-giert – Reuchlin frei. Sein „Augenspiegel“ enthalte keine Ketzerei, er könne von allen gelesen und öffentlich verbreitet werden. Dieses „Defintive Urteil von Speyer“ (wie es ironischerweise im Titel heißt) bleibt nur wenige Wochen unangefochten in Kraft (Brod, 240). Einmal mehr zeigt sich, wie erschüttert die bisherigen Autoritäten im Grunde bereits waren.

Die Schlußphase des langen Streites wurde dadurch eingeleitet, daß die Sache letztlich in Rom landete und durch ein päpstliches Gericht entschieden werden sollte. Hochstraten reiste persönlich nach Rom, Reuchlin durfte sich durch einen Anwalt vertreten lassen. Über Jahre zog sich dort der Prozeß hin, und obwohl sich namhafte Personen – inzwischen auch Kaiser Maximilian I. – auf die Seite Reuchlins stellten, wurde am 23.6.1520 durch päpstlichen Beschluß die Entscheidung von Speyer für ungültig erklärt und Reuchlins „Augenspiegel“ verurteilt. „Reuchlin wurde einseitig ewiges Still-schweigen auferlegt, er hatte die gesamten Prozeßkosten zu tragen“ (Brod, 267). Auch wenn dieses Ende kaum noch jemanden interes-sierte – für Reuchlin hatte es ganz praktische Konsequenzen: sein einst ansehnliches Vermögen war weitgehend aufgezehrt, seinen Lebensabend beschloß er als verarmter Mann, auch wenn er in vielen Augen der moralische Sieger in diesem Mächtespiel blieb.

Was geschah nun mit der jüdischen Literatur? Als Reuchlins „Au-genspiegel“ verurteilt wurde, wurde sie weder konfisziert noch vernichtet. Sie wurde vielmehr gerettet. Brod notiert: „Dagegen setzte die Weltgeschichte mit der ihr eigenen Kalligraphie einen höchst ironischen Schnörkel an die ganze vielschichtige Begebenheit: Der babylonische Talmud wurde nämlich damals (1520-1523) zum erstenmal gedruckt, und zwar auf Anregung ebendesselben Papstes Leo X., der den >Augenspiegel< wegen allzu günstiger Beurteilung des Talmud verdammt hatte. Damit erst wurde der Talmud, der bis dahin als Ganzes nur in Handschriften existiert hatte, endgültig gerettet, den vielen Verfolgungen durch Kleriker und getaufte Juden für immer entzogen. Die hartnäckigste dieser Verfolgungen (durch die Kölner) endete also mit dem buchtechnischen Schutz gegen alle künftig möglichen Vernichtungsversuche“ (Brod, 268f). Die neue Zeit war nicht aufzuhalten.

 

3. Der „Augenspiegel“ 1511

a. Die äußeren Umstände der Veröffentlichung

Reuchlins „Augenspiegel“ erschien ohne Angaben zum Drucker bzw. zum Druckort und zum Jahr. Dennoch sind die Eckdaten der Veröffentlichung unzweifelhaft. Bei Karl Steiff (in seinem Stan-dardwerk zum Tübinger Frühdruck) ist zu lesen: „Obwohl o. O. u. J. [ohne Ort und Jahr] erschienen, ist der Druck doch sicher als An[s]helmischer zu betrachten, wie die Typen sowohl des deutschen als des lateinischen Textes zeigen. Ebenso sicher ist er in den Herbst 1511 u. zw. an das Ende des August oder in den Anfang des September zu setzen, nicht früher, da der lateinische Theil vom 17. Aug. 1511 datiert ist, nicht später, weil das Ganze bis zur Frankfurter Herbstmesse im Druck vollendet sein musste … und wie der weitere Verlauf der Sache zeigt, auch vollendet war“ (Steiff, 79).

Demnach wurde der „Augenspiegel“ also von Thomas Anshelm in Tübingen im August oder September 1511 gedruckt und erschien zur Frankfurter Herbst-Büchermesse. Da das Erscheinen dieses Buches im Rahmen der damaligen Verhältnisse ein „Medienereig-nis“ war, wie heutige Publikationen das nennen , und weil es ja umgehend zu Streitigkeiten führte, die historisch feststellbar sind, scheint mir das Datum der Publikation – nicht zuletzt aufgrund der bibliographischen Forschungen von Steiff – gesichert zu sein. Bei Geiger (aaO, 252 Anm. 4) finde ich den bemerkenswerten Hinweis: „Oskar Hase, Die Koburger, Nürnberger Buchhändlerfamilie. Leipzig 1869 S. 68 fg. hat richtig bemerkt, dass erst mit dem Erscheinen der Schriften im Reuchlinschen Streite die Bedeutung der Frankfurter Messe für den Buchhandel beginnt“.

Wer war Thomas Anshelm? Wie in der Anfangszeit des Buchdrucks üblich war Anshelm selbst ein studierter Mann, bevor er beruflich als Verleger, Herausgeber, Buchdrucker und Buchhändler in Personalunion tätig war (das Binden der Bücher übernahmen die Käufer des Buches, meist mit Hilfe spezieller Buchbinder; das erklärt auch, daß Bücher bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts meist sehr unterschiedlich – je nach Geschmack und Geldbeutel der Buchkäufer – gebunden sind).

Bei Josef Benzing ist zu lesen, daß Anshelm schon in Straßburg einen Druck herausgebracht hatte, bevor er als Pforzheimer Erst-drucker von 1495 bis zum März 1511 in Pforzheim, der Geburts-stadt Reuchlins, wirkte. Anshelm stammte aus Baden-Baden und kam aus ärmlichen Verhältnissen: „1485 in Basel immatrikuliert“ zahlte er „wegen Armut nur 1 Schilling Gebühr“ (Benzing, 144). Seit 1507 besuchte er die Frankfurter Buchmesse (die schon im 15. Jahrhundert eingerichtet wurde). Wie bereits erwähnt benutzte Anshelm als erster Drucker in Deutschland bewegliche hebräische Lettern (bei der Drucklegung von Reuchlins Buch „De rudimentis hebraicis“ 1506).

Wohl auf Vermittlung von Reuchlin siedelte Anshelm im März 1511 nach Tübingen über, wo zu diesem Zeitpunkt keine Buchdruckerei war: Der Tübinger Erstdrucker Johann Otmar, der von 1498 bis 1501 in Tübingen ansässig war, ging Anfang 1502 nach Augsburg (Benzing, 170). Anshelm blieb bis 1516 in Tübingen, wo er am 20.3.1511 immatrikuliert wurde und über 70 Drucke herausbrachte, u.a. von Reuchlin, Ulrich Hutten, Wimpfeling, Johannes Stöffler und einigen Klassikern wie Terenz, Curtius, Hippokrates (Benzing, 171). Neben den altsprachlichen, meist lateinisch verfaßten Werken stellte er auch einige deutsche und einen hebräischen Druck her. Für kurze Zeit war Melanchthon, ein Großneffe von Reuchlin, bei Anshelm als Korrektor tätig. Insgesamt gilt Anshelm als „bedeutender humanistischer Drucker“ (Benzing, 171). Seine schön gestaltete Druckermarke findet sich zum Beispiel in Reuchlins Buch „De rudimentis hebraicis“.

 

b. Titelblatt, Gliederung und Inhalt des „Augenspiegel“

Das Titelblatt besteht aus einer Montage von Text und Bild. Beide sind so angeordnet, daß die äußeren Ränder die Gestalt bzw. Um-risse einer Sanduhr annehmen. Direkt unterhalb der am meisten verjüngten, engsten Stelle in der Mitte ist das Wort „Augenspiegel“ zu lesen: dieses Wort ist als Haupttitel zu verstehen. Voran gehen Angaben zum Verfasser (Name und Amt) sowie zum Inhalt und Anlaß der Schrift. Im unteren Teil steht ein Verweis auf die am Ende des Druckes befindlichen Korrekturen (der deutschen und lateinischen Textteile). Direkt unterhalb des Haupttitels „Augen-spiegel“ befindet sich das Bild, das eine Brille zeigt mit den beiden kreisrunden Augengläsern und dem gebogenen Nasenbügel, so wie es typisch ist für Brillen aus dieser Zeit. Eine Brille wurde damals „Augenspiegel“ genannt. Eine Fachzeitschrift für die Augenheil-kunde und das Optikerhandwerk heißt noch heute „Augenspiegel“, und Brillen in der Art wie auf dem Titelblatt von Reuchlins „Au-genspiegel“ abgebildet, sind noch heute in einigen Ländern das typische Symbol, das z.B. in Lichttafeln auf ein Optiker-Fachgeschäft hinweist.

 

Doctor Johannsen Reuchlins

der K.M. als Ertzhertzogen zu Osterreich auch Chur

fürsten vnd fürsten gemainen bundtrichters inn

Schwaben warhafftige entschuldigung

gegen vnd wider ains getaufften iuden

genant Pfefferkorn vormals ge

truckt vßgangen vnwarhaf

tigs schmachbüchlin

Augenspiegel

Am end dißes büchlins findt man ain correctur etlicher wör-

ter so inn dem truck versehen sind im teutschen vnnd latin/bezaich

net durch die zal der bletter

 

Im Kern enthält der gedruckte „Augenspiegel“ neben anderen Textteilen, die Reuchlin erst im Sommer 1511 verfaßt hat (am Ende der 52 in lateinischer Sprache gedruckten Argumente steht das Datum 18.8.1511), das in deutscher Sprache verfaßte Gutachten („Ratschlag“) Reuchlins für den Kaiser. Dieses Gutachten hat Reuchlin schon am 6.10.1510 fertiggestellt (dieses Datum ist am Schluß des Gutachtens im „Augenspiegel“ abgedruckt) und (in handschriftlicher Form) dem Kaiser im Herbst 1510 übergeben lassen. Mein Überblick über den Inhalt des „Augenspiegel“ orien-tiert sich an dessen Edition in den Sämtlichen Werken Reuchlins (aaO IV/1, 15-168). In dieser vorbildlichen Edition sind die deut-schen Passagen im Original und die lateinischen Passagen zwei-sprachig (Latein mit deutscher Übersetzung) wiedergegeben. Aus dem Gutachten zitiere ich um der leichteren Lesbarkeit willen nach der modernen Fassung, wie sie in dem „biographischen Lesebuch“ von Hans-Rüdiger Schwab (zitiert als „L“) wiedergegeben ist (L, 131-174; wo es mir geboten scheint, zitiere ich auch nach dem Ori-ginal). Alle anderen Zitate aus dem „Augenspiegel“ sind dem Band IV (1. Teil) der Sämtlichen Werke entnommen (zitiert als „W“).

Reuchlin hat seinen „Augenspiegel“ wie schon sein Gutachten mit einer Ausnahme in deutscher Sprache geschrieben und veröffent-licht: Die „argumenta“ (W, 65-151), die ungefähr so umfangreich sind wie das Gutachten selbst und die nach akademischer („scholastice“) Methode das Pro und Contra der Sache diskutieren, bilden den einizigen längeren lateinischen Abschnitt. In diesem Abschnitt wollte Reuchlin wohl die Diskussion mit der gelehrten Fachwelt führen. Alle anderen Textteile sind in deutscher Sprache verfaßt und wiedergegeben. Schon die Texte, die zu Reuchlins Gutachten geführt haben und die Reuchlin als zur Sache gehörende Dokumente mit abdrucken läßt, sind in deutsch geschrieben: das Schreiben des Kaisers an den Mainzer Erzbischof (20), das Mandat des Kaisers zur Einholung der Gutachten (21) und das Schreiben des Mainzer Erzbischofs an Reuchlin (21-22). Dementsprechend hat Reuchlin sein Gutachten an den Kaiser ebenfalls in deutscher Sprache verfaßt (wobei er vermutlich davon ausging, daß der Kaiser die lateinische Sprache nicht so gut beherrschte wie die deutsche). So sind auch das an den Anfang gesetzte detaillierte Inhaltsverzeichnis (W, 17), das Vorwort (W, 18-19), der Bericht über seine Reaktion auf Pfefferkorns Angriff (W, 22-26) und schließlich die Verteidigung gegen 34 Vorwürfe in Pfefferkorns Handspiegel (152-169) in Deutsch gehalten. Da Pfefferkorns Angriff gegen ihn im „Handspiegel“ in deutscher Sprache publiziert worden war, hat Reuchlin es wohl als sinnvoll angesehen, gegen dessen „Unwahr-heiten“ auf Deutsch zu antworten. Dieser Umstand hat sicher mit dazu beigetragen, daß die Rezeption des „Augenspiegel“ nicht nur auf die Kreise beschränkt blieb, die der lateinischen Sprache mächtig war.

 

Übersicht zum Inhalt des „Augenspiegel“:

1. Inhaltsverzeichnis (W, 17)

2. Erzählung der Vorgeschichte (W, 18-26)

a. Vorwort von Reuchlin (W, 18-19)

b. Schreiben des Kaisers an den Mainzer Erzbischof (W, 20)

c. Mandat des Kaisers zur Einholung der Gutachten (W, 21)

d. Schreiben des Mainzer Erzbischofs an Reuchlin (W, 21-22)

e. Reaktion Reuchlins auf Pfefferkorns Angriff (W, 22-26)

3. Gutachten (Ratschlag) an den Kaiser (W, 27-64; L, 131-174)

4. 52 Argumente nach scholastischer Methode (W, 65-151)

5. Verteidigung gegen 34 Vorwürfe Pfefferkorns (W, 152-169)

Im Folgenden gehe ich hauptsächlich auf das Gutachten ein, das den Ausgangspunkt der Sache und den Kern des „Augenspiegel“ bildet. Reuchlin spricht zu Beginn direkt und ausschließlich den Kaiser an (L, 131f) und bezieht sich auf dessen Mandat in der „Sa-che der beschlagnahmten oder (als verdächtig) bezeichneten Schrif-ten“ der Juden (L, 132). Sodann fixiert Reuchlin die genaue Frage-stellung: „Ob den Juden ihre Bücher sollen oder von Rechts wegen können beschlagnahmt, vernichtet oder verbrannt werden?“ (L, 132).

Im unmittelbaren Anschluß an die Frage werden von Reuchlin vier Argumente („Ursachen“, Gründe) genannt, die bei den einen zu einer bejahenden Antwort führen, und sechs Argumente, die bei den anderen zu einer verneinenden Antwort führen (L, 132f). Reuchlin geht demnach davon aus, daß die Frage kontrovers behandelt wird.

Vier Gründe für die Beschlagnahme bzw. Vernichtung der jüdischen Schriften:

1. Weil sie gegen die Christen verfaßt seien;

2. Weil sie Jesus, Maria, die Apostel, auch uns und unsere christliche Ordnung beleidigten;

3. Weil sie falsch seien;

4. Weil durch ihre Schriften die Juden verführt würden, im Judentum zu verharren und nicht zum christlichen Glauben zu kommen.

Sechs Gründe gegen die Beschlagnahme und Vernichtung:

1. Die Juden haben als Untertanen des Heiligen Römischen Reiches Anspruch auf den Schutz durch das Kaiserliche Recht;

2. Unser Eigentum ist geschützt und darf uns nicht ohne unser Zutun abhanden kommen;

3. Kaiserliches und Königliches Recht sowie andere fürstliche Ge-setze sehen vor, daß niemand sein Eigentum durch Gewalt verliere;

4. Ein jeder muß in seinem alten Herkommen, Sitte und Besitz gesichert sein, selbst wenn er ein Räuber wäre;

5. Die Juden sollen ihre Synagogen, „Schulen“ genannt, in Ruhe, ohne Belästigung und Beeinträchtigung aufrechterhalten können;

6. Derartige Schriften der Juden sind noch nie, weder nach geistli-chem noch nach weltlichem Recht, verworfen oder verurteilt wor-den.

Auf alle Pro- und Contra-Argumente, wie sie hier vorgetragen wer-den, geht Reuchlin in seinem Gutachten ein, wobei er in seiner eigenen Argumentation die sechs Contra-Argumente mit verwendet.

Um selbst zu einer begründeten Antwort zu gelangen, bezeichnet es Reuchlin als „notwendig“ zu bedenken, daß die jüdischen Schriften „von verschiedener Art“ (Gestalt) sind. Im Anschluß an ein Gleichnis Jesu verfolgt Reuchlin dabei den Zweck, daß beim Aus-reißen des Unkrauts nicht auch der Weizen mit ausgerissen wird (Mt 13, 29 L, 133). Auf dieses Jesus-Wort bezieht Reuchlin sich auch später noch, z.B. bei der Sichtung des sehr unterschiedlich zu-sammengesetzten Talmud, um letztlich dafür zu plädieren, ihn komplett zu erhalten, weil die Gefahr viel zu groß sei, zusammen mit dem, was zu verwerfen sei (Unkraut), auch das zu vernichten, was wertvoll ist oder sich zu späteren Zeiten noch als wertvoll erweisen könnte (Weizen). An dieser Stelle macht Reuchlin vor jeder Einzelerörtung klar, daß das jüdische Schrifttum nicht als Ganzes verneint oder bejaht werden kann, sondern zunächst einmal in seiner Unterschiedlichkeit wahrzunehmen ist. Vor dem Hintergrund seiner eigenen Kenntnis teilt er das jüdische Schrifttum in sieben Arten ein (wir würden heute wohl von Literatur-Gattungen sprechen).

Reuchlins Einteilung der jüdischen Schriften in sieben Arten:

1. die Heiligen Schriften der Juden, „ihre Bibel“ (das sind die Schriften, die wir heute noch als „Altes Testament“ bezeichnen);

2. der Talmud;

3. die Kabbala;

4. Glossen und Kommentare zu den biblischen Schriften („Perusch“);

5. Reden, Disputationen, Predigtbücher („Midrasch“);

6. Schriften der jüdischen Philosophen und Gelehrten aller Wissen-schaften („Sepharim“);

7. Poetisches, Fabeln, Gedichte, Märchen, Satiren, Sammlung von Lehrbeispielen („Dichtung“, also alles, was wir heute wohl als bel-letristische Literatur bezeichnen würden).

Im Hauptteil seines Gutachtens (L, 134-161) setzt Reuchlin sich mit allen unter den Punkten 1-7 eingeteilten Schriften gesondert auseinander, um sie unter der leitenden Fragestellung der Prüfung zu unterziehen. Mit der ersten Kategorie braucht er sich nicht lange zu beschäftigen, weil die Heiligen Schriften der Bibel von Pfefferkorn und allen anderen beteiligten Personen und Gutachtern nicht ange-tastet wurden (sie gehören zum Kanon der christlichen Bibel; L, 136). Die 7. Kategorie betrachtet Reuchlin zuerst (L, 134-136), bevor er die anderen Kategorien der Reihe nach durchgeht (L, 136-161), wobei die Behandlung des Talmud deutlich erkennbar den meisten Raum in Anspruch nimmt (L, 136-157).

Dieses Vorgehen Reuchlins markiert eine Sonderstellung im Blick auf die anderen Gutachten. Alle Gutachten stimmen darin überein, daß die biblischen Schriften aus dem genannten Grund unangetastet bleiben sollen. Aber im Blick auf alle anderen jüdischen Schriften gehen die anderen Gutachter davon aus, daß in den jüdischen Schriften so viel Schmähliches, Falsches und dem christlichen Glauben Widersprechendes enthalten sei, daß die Forderung ihrer Beschlagnahme und Vernichtung mehr oder weniger begründet sei. Mehr oder weniger: in der Tat weichen die Gutachten in der Weise untereinander ab, daß der Umfang dessen, was beschlagnahmt und vernichtet werden solle, unterschiedlich bestimmt wird. Zur ge-naueren Bestimmung des Umfangs wird von den anderen Gutach-tern eine Prüfung gefordert; aber daß diese Prüfung sehr viel zutage fördern würde, was die Vernichtung rechtfertigen würde, bildet den gemeinsamen Nenner aller anderen Gutachten. Zu mehr waren die anderen Gutachter nicht in der Lage, weil ihnen die eigene Kenntnis der jüdischen Schriften aufgrund mangelnder Sprach- und Literaturkenntnisse fehlte. Reuchlin ging demgegenüber „insofern am weitesten …, als er die von den anderen Gutachtern in ihren Stellungnahmen nur geforderte… Prüfung der jüdischen Bücher aufgrund seiner Hebräischkenntnisse selbst vornahm“ (Ackermann, 176).

Diesen äußerst wichtigen Punkt hat Pfefferkorn schnell erkannt und sich infolgedessen nicht gescheut, Reuchlin in seinem „Handspiegel“ (1511) vorzuwerfen, seine Hebräischkenntnisse seien nicht viel mehr wert als die eines Esels (W, 158). Dieser Vorwurf ist zwar ebenso perfide wie unzutreffend. Und doch berührt Pfefferkorn damit einen wunden Punkt, denn zur Zeit ihrer ersten Erforschung durch Reuchlin und auch später noch durch weitere christliche Gelehrte mußte die Kenntnis der hebräischen Sprache in gewisser Hinsicht rudimentär sein; es mußte ja erst mühsam ein Weg gebahnt werden. Dementsprechend bekennt Reuchlin selbst, daß seine Kenntnis der jüdischen Literatur begrenzt ist, daß auch er wesentliche Teile der jüdischen Literatur nur vom Hörensagen und durch Dritte vermittelt kennt, nicht aus eigenem Quellenstudium. Besonders auffällig ist dieses Bekenntnis im Blick auf den Talmud, der nicht nur in seinem Gutachten breiten Raum einnimmt, sondern der auch in dem nachfolgenden Streit eine derartige Dominanz gewinnt, daß man auch vom „Streit um den Talmud“ spricht. Diese teilweise Unkenntnis der Quellen selbst ist nicht zuletzt dadurch bedingt, daß der Talmud zur damaligen Zeit nur in Handschriften überliefert und äußerst selten war. Reuchlin notiert, daß es ihm trotz vielfacher Anstrengungen (auch in finanzieller Hinsicht) nicht gelungen ist, ein Exemplar des Talmud selbst zu Gesicht zu bekommen (L, 137f), ja er sagt, er kenne „keinen Christen in ganz Deutschland, der den Talmud selbst gelesen hätte“ (L, 138).

Und dennoch: Nicht nur mit seinen (zwar begrenzten, aber eben doch vorhandenen) Hebräischkenntnissen unterscheidet sich Reuchlin von allen anderen Gutachtern, sondern auch mit seiner ganz anderen Einstellung und Haltung: Während auf der Gegenseite Ignoranz und Vorurteile die Basis für die Vor-Verurteilung der jüdischen Schriften bilden, urteilt Reuchlin auf einer ganz und gar anderen Basis und weist dementsprechend auch den Weg für künf-tige Zeiten: Dieser Weg kann nur in einer Ausweitung der Hebräischkenntnisse und der Studien zur jüdischen Literatur be-stehen (so Reuchlins Schlußplädoyer L, 173).

Daß Reuchlin mit der Prüfung der 7. Literaturgattung beginnt, hat seinen besonderen Grund. Denn, so Reuchlin, in dieser Kategorie „finden sich möglicherweise einige, aber ganz wenige“, die als re-gelrechte Schmähschriften einzustufen sind und der Vernichtung anheimfallen sollten. Reuchlin betont, daß er „nicht mehr als zwei herausgefunden“ habe. Es fällt dabei viererlei auf: zum einen spricht Reuchlin von ganz wenigen Ausnahmen, zum anderen sieht Reuchlin diese Ausnahmen nur in dieser belletristschen Literatur-gattung (die für ihn offensichtlich das geringste wissenschaftliche Gewicht hat), zum dritten betont er, daß für diese Schmähschriften ausschließlich nach geltendem Recht („kaiserliches Gesetz“ L, 135) zu verfahren sei, und zum vierten, daß dabei nicht anders zu ver-fahren sei „als mit einem jeden Christen in der gleichen Sache ver-fahren werden soll“. Konkret heißt das: „nur nach ausreichendem Verhör und rechtmäßig ergangenem Urteil“ (L, 135).

Im Blick auf alle anderen Literaturgattungen (2-6) kommt Reuchlin zu dem bemerkenswerten Ergebnis, daß sie nach seiner Kenntnis keine Schmähschriften enthalten und darum auch nicht beschlag-nahmt und verbrannt werden dürfen. Es wird dabei deutlich: Die Tatsache allein, daß jüdische Schriften auch Teile enthalten, die (argumentativ und entsprechend den eigenen Grundüberzeugungen) gegen den christlichen Glauben gerichtet sind, machen sie nicht zu Schmähschriften, die einzig zu dem Zweck verfaßt wurden, um den christlichen Glauben zu beleidigen und in den Schmutz zu ziehen. Reuchlin stellt fest, daß sich die Sache im Blick auf die jüdischen Schriften völlig anders verhält als im Blick auf die Schriften der christlichen Ketzer und Häretiker: Letztere sind nämlich „durch die Taufe und die anderen Sakramente, die sie empfangen haben, der christlichen Kirche unterworfen, und in Dingen, die den Glauben betreffen, ist niemand ihr Richter, als der Papst und die Geistlichen unseres Glaubens. Die Juden aber sind in Dingen, die ihren Glauben betreffen, einzig ihresgleichen und sonst keinem Richter unterworfen. Es darf und kann auch kein Christ darüber befinden, es sei denn im Zusammenhang mit einem weltlichen Prozeß, der auf regelrechte Anzeige bei einem ordentlichen Gericht zustandegekommen ist. Denn sie sind nicht Glied der christlichen Kirche und daher geht uns ihr Glaube nichts an“ (L, 157; unter Verweis auf 1. Kor 5, 12f; vgl. L, 139). Diese grundsätzliche Unter-scheidung Reuchlins findet sich im Zusammenhang mit seiner Un-tersuchung des Talmud; sie findet aber wegen ihrer grundsätzlichen Bedeutung auch Anwendung bei den anderen Literaturgattungen, wie überhaupt in dem längeren Abschnitt über den Talmud von Reuchlin wichtige Grundsätze herausgearbeitet werden, die für das ganze Gutachten Relevanz haben.

Neben der juristischen „Argumentation aus dem Corpus Iuris Civilis und dem kanonischen Recht“ begründet Reuchlin seine Erkenntnisse auch mit zahlreichen Bibelzitaten. Wie Ackermann in seiner Studie über den „Juristen Johannes Reuchlin“ gezeigt hat, sind für Reuchlin auch „die Bibel und Kirchenväterzitate Rechtsquellen“ – was durchaus üblich gewesen sei in der damaligen Zeit (Ackermann, 161), ohne daß deswegen sein Gutachten als ein dezidiert theologisches aufzufassen wäre. Ackermann kommt zu dem Ergebnis, daß Reuchlins Ratschlag an den Kaiser von 1510 als „Rechtsgutachten“ anzusehen ist, und daß erst der nachfolgende Streit einen ausgesprochen theologischen Charakter annahm, dem sich Reuchlin auch mit theologischen Argumenten stellen mußte (Ackermann, 162). Folgende Bibelzitate, auf die Reuchlin bereits in seinem Gutachten großes Gewicht legt, seien beispielhaft genannt:

1. Kor. 11, 19 (L, 138ff)

Es muß Aberglaube und Irrtum geben, damit die Rechtgläubigen und Erprobten offenbar werden.

„Da … wir und die Juden nicht einig im Glauben sind, ist es für uns gut und nützlich, daß der Talmud existiert und daß er erhalten bleibe. Und je ungereimter der Talmud ist, desto mehr befähigt er uns Christen, ihn in Wort und Schrift zu widerlegen. Und wenn wir wirklich wollen, dann ist er uns eine gute Arznei gegen die Trägheit und Faulheit derer, die, wie die Geistlichen, die Heilige Schrift stu-dieren sollen. Sie sollen sich dafür ausbilden, daß sie fähig werden, andere in der rechten Lehre zu unterrichten und vor den Gegnern die richtigen Argumente zu finden, wie Paulus an Titus schreibt [Verweis auf Titus 1, 9] … Ähnlich sagt Aristoteles …, ein Weiser solle zwei Eigenschaften haben: Er soll die Wahrheit sagen, und er soll imstande sein, der Unwahrheit entgegenzutreten. Und nicht, daß er in Zorn gerate und die Schriften verbrenne, wenn er nicht genug gelernt hat, um sie mit Vernunftgründen in Predigt oder Disputation zurechtzuweisen. Man spricht ja von Biertisch-Argumenten, wenn einer so ungebildet ist, daß er mit der Faust dreinschlagen will, wenn er zu etwas nichts mehr zu sagen weiß. … Wie soll man nun begründen können, daß die Christen den Talmud verwerfen, den sie noch nicht einmal verstehen?“ (L, 139f).

Reuchlin geht zwar wie selbstverständlich davon aus, daß die Wahrheit auf Seiten der Christen ist, aber angesichts der entschei-denden Frage, auf welche Art und Weise der Wahrheit zum Recht zu verhelfen ist und sie zur Geltung gebracht werden kann, setzt er nicht auf Gewaltmittel und Unterdrückung, sondern auf geistige Auseinandersetzung „in Wort und Schrift“, auf Verstehen-wollen und Argumentation „mit Vernunftgründen“. Das aber kann nicht geschehen, wenn man die Lehren der Gegenseite nicht wirklich kennt – was wiederum zur Folge hat, daß man die jüdischen Schrif-ten nicht verbrennen, sondern zuallererst kennenlernen muß, was nur durch eine Intensivierung der Hebräisch-Studien zu erreichen ist. „Verbrennt nicht, was ihr nicht kennt!“ – so überschreibt Peter Wortsman treffend seinen ZEIT-Artikel vom 5.1.2011 (wobei im Sinne Reuchlins zu ergänzen wäre: Verbrennt nicht, sondern studiert, was ihr nicht kennt – damit ihr es kennenlernt!).

Seine Überzeugung untermauert Reuchlin durch einen Hinweis auf die Geschichte: „Denn hätte man den Talmud verbrennen müssen, so wäre er schon vor vielen Hunderten von Jahren verbrannt wor-den, da ja unsere Vorfahren im christlichen Glauben viel eifriger waren als wir heute. Ich habe aber, solange ich denken kann, niemals bei einem von jenen, die gegen den Talmud geschrieben, gelesen, sie hätten begehrt oder auch nur gewünscht, er hätte verbrannt werden sollen – einzig ausgenommen … Bruder Petrus Nigri vom Predigerorden und Johannes Pfefferkorn, der Neugetaufte … Die-sen möchte ich es auch nicht übelnehmen, denn sie haben Eifer für Gott, freilich nicht von Einsicht geleitet, wie Paulus im Römerbrief 10 [,2] sagt“ (L, 143).

Diese Sätze zeigen, daß Reuchlin zum Zeitpunkt seiner Abfassung des Gutachtens noch davon ausgehen konnte, daß die Forderung nach der Verbrennung der jüdischen Schriften nur von einzelnen Personen erhoben wurde – wie sich der Kölner Dominikanerorden und andere in dieser Frage positionieren würden, war anscheinend noch nicht so klar. Reuchlin jedenfalls scheint es im Sommer 1510 noch für möglich zu halten, daß nur ein paar irregeleitete Einzel-personen in ihrem Übereifer eine Position bezogen haben, die einer ernsthaften Überprüfung durch wirklich sachkundige Personen und Institutionen nicht standhalten würde – indem er zugleich eine Deutung dieser Position mitliefert (Übereifer von Neubekehrten), die es den anderen Gutachtern leicht gemacht hätte, sich davon zu distanzieren. Der weitere Verlauf hat dann freilich gezeigt, daß Reuchlin mit dieser Einschätzung daneben liegen sollte.

Merkwürdig mutet auch die Einschätzung Reuchlins an, es sei in den vorangegangenen Jahrhunderten noch nie zu Talmudverbrennungen gekommen. Meint er damit: Verbrennungen des Talmud im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation? Bereits 1242 hatte es ja die allseits bekannte Pariser Talmudverbrennung gegeben. Auf diese kommt er in seinen lateinisch verfaßten „Argumenten“ im „Augenspiegel“ zu sprechen, wenn er ausgehend von der Tatsache, daß der Talmud viele Teile hat, erklärt: „Sofern nun … nach erfolgter Prüfung … feststünde, daß jener Teil [der geprüft wird] so beschaffen sei, daß er eine Ketzerei oder Lästerungen enthalte, dann könnte jener Teil ohne Zweifel den Juden weggenommen und verbrannt werden. Dabei sollte aber so verfahren werden, daß – was meines Erachtens annehmbar ist – einige Exemplare bei einem Träger der ordentlichen Kirchengerichtsbarkeit als Muster aufbewahrt werden sollten … Und so haben es auch die berühmten Päpste Innozenz [IV. 1243-1254] und Gregor [IX. 1227-1241] gehalten: sie haben bestimmte Bücher des Talmud, aus denen die Juden Ketzerei gelehrt hatten, verbrannt, nicht aber verfügt, daß es nicht gut sei, wenn einige aufbewahrt werden würden“ (W, 99). Die zitierten Sätze Reuchlins zeigen, daß er in den 1511 zur eigenen Verteidigung geschriebenen Texten des „Augenspiegel“ ein Stück weit zurückrudert, auch auf die Gefahr hin, seine im Gutachten von 1510 glasklare Haltung zu trüben. Zwar wahrt Reuchlin auch nach dem Urteil von Max Brod (222) im Kern der Sache seine Position von 1510, aber die Tatsache, daß alle anderen Gutachter die Position Pfefferkorns stärken und der seinigen widersprechen, nötigt ihn im Zuge seiner eigenen Verteidigung zunächst zu Zugeständnissen. Erst als Reuchlin erkennt, daß er mit Zugeständnissen an die Gegenseite nichts erreichen kann (spätestens, als er zum Widerruf nicht mehr nur einzelner Spitzenaussagen, sondern des gesamten „Augenspiegel“ gezwungen werden soll) und die Fronten sich verhärten, nimmt Reuchlin wieder seine klare ursprüngliche Position ein und geht zum Angriff über (Brod, 232).

Johannes 5, 39 (L, 145ff)

Befragt, durchsucht und erforscht die Schriften, sofern ihr wähnt, darin das ewige Leben zu finden. Eben diese sind es, die von mir Zeugnis geben.

Reuchlin nennt seine Exegese dieses Jesuswortes im Johannes-evangelium die „Hauptbegründung meines Gutachtens“ (L, 145). Bewußt weicht Reuchlin von der herkömmlichen Auslegung ab, wenn er im Rückgriff auf den griechischen Urtext des Neuen Tes-taments zu zeigen versucht, daß in Joh. 5,39 von einem schulmäßi-gen Forschen und Suchen die Rede ist, das sich nicht nur auf die biblischen Bücher (des Alten Testaments) bezieht, sondern auch auf andere Schriften der Juden, die später im Babylonischen und Jerusalemer Talmud gesammelt wurden. Reuchlin rechnet damit, daß auch im Talmud selbst Texte zu finden sind, die letztlich auf Christus hinweisen, so daß der Talmud unter Voraussetzung seines rechten Gebrauchs sogar in einem positiven Sinn von Christen verwandt werden kann, um die Wahrheit des christlichen Glaubens zu erweisen (oder zumindest zusätzlich zu untermauern). Diese These bleibt freilich vage, weil Reuchlin keine Zitate liefert bzw. liefern kann, die seine These belegen können.

Genesis 2, 9 (L, 148ff)

Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen

Reuchlin geht davon aus, daß der Talmud durchaus Schlechtes, aber auch sehr viel Gutes enthält. Wiederholt an Mt. 13,29f anknüpfend bekräftigt er, daß wir nicht das Unkraut ausreißen dürfen, „damit wir nicht zugleich die gute Frucht verderben, sondern wir sollten alles stehen lassen bis zur Ernte“ (L, 155), d.h. bis zum Ende der Welt bzw. bis zum Gericht Gottes. Reuchlin sieht kein Problem darin, „daß wir Gutes und Schlechtes nebeneinander lesen und studieren können: das Schlechte, um es mit vernünftigen Worten zurechtzuweisen, und das Gute, das darunter wie die Rosen unter den Dornen sich findet, um es zum Gebrauch in der heiligen Lehre zu verwenden“ (L, 149). Unter Verweis auf die zum Teil weltliche Weisheit, die z.B. Salomo und Daniel zu ihrer Zeit rezipierten, sagt Reuchlin mit einem Wort des Hieronymus: „Der Weise kann aus Dreck Gold machen“ (L, 151).

Was die verbleibenden Literaturgattungen (3-6) betrifft, so kann Reuchlin von den Erkenntnissen ausgehen, die er im Zusammen-hang mit seiner Erörterung des Talmud gewonnen hat. Bemer-kenswert ist noch der Abschnitt über die jüdischen Kommentare zu den biblischen Büchern. Reuchlin hebt hervor, daß die christlichen Gelehrten auf diese Schriften auf keinen Fall verzichten dürfen, weil die jüdischen Ausleger „das Alte Testament Wort für Wort entsprechend der Eigenart der hebräischen Sprache erläutern“, und daß sogar „das heilige geistliche Recht besagt, daß der Glaubensinhalt der Bücher des Alten Testaments aus dem hebräi-schen Text erfaßt werden müsse“ (L, 159). Reuchlin macht damit den humanistischen Grundsatz „ad fontes“ stark, der wenig später in der Reformation seine ganze Kraft entfalten sollte, als die christ-liche Lehre entgegen der sich hauptsächlich auf die Vulgata stüt-zenden Lehrweise durch den Rückgriff auf die biblischen Urtexte in ganz neuer und frischer Weise ermittelt wurde und so wieder zu glänzen begann.

Reuchlin faßt diese fundamentale Einsicht und Entscheidung, auch in sprachlicher Hinsicht zu den Quellen zurückzugehen, nicht ohne eine polemische Spitze gegen den zu seiner Zeit noch üblichen Lehrbetrieb in folgende Worte:

„Derartige Kommentare darf und kann die christliche Kirche nicht aus der Hand geben, denn sie halten die ursprüngliche hebräische Sprache in Übung, auf die die Heilige Schrift, besonders für das Alte Testament, nicht verzichten kann; genausowenig, wie wir die griechische Sprache und ihre Grammatiken und Kommentare für das Neue Testament entbehren können und dürfen … Bei dieser Gelegenheit möchte ich mir erlauben, mit aller gebotenen Zurück-haltung darauf hinzuweisen, daß man in unserem christlichen Glauben sehr viele Gelehrte findet, die aus Unkenntnis dieser beiden Sprachen die Heilige Schrift nicht richtig erklären und deswegen sehr oft zum Gespött werden. Darum soll man die Kommentare und Glossen der Leute, die ihre Muttersprache von Jugend auf gründlich gelernt haben, keineswegs unterdrücken, sondern, wo immer solche existieren, sie zugänglich machen, pflegen und sehr in Ehren halten, als Quellen, aus denen uns der wahre Sinn der Sprache und das Verständnis der Heiligen Schrift zufließt. Deshalb sagt das kanonische Recht: >Viele von den Unseren haben vieles gesagt, das sich gegenseitig widerspricht. Darum sind wir genötigt und gezwungen, zu den Juden zu gehen und das wahre Wissen weit richtiger an der Quelle als in den Abflüssen zu suchen<“ (L, 159f).

Auch an dieser Stelle sehen wir sehr schön, wie Reuchlin das ur-sprüngliche Anliegen, die jüdischen Bücher zu beschlagnahmen und zu vernichten, geradezu umkehrt und völlig entgegengesetzte Anliegen zur Geltung bringt: Studium und Pflege – was auch eine völlig veränderte Haltung zur Folge hat: Wertschätzung und Aner-kennung.

Nach der Abhandlung der sieben Literaturgattungen kann Reuchlin in direkter Ansprache des Adressaten seines Gutachtens resümieren: „Hiermit erhält Eure fürstliche Gnaden auf die Frage Seiner Kaiserlichen Majestät meine Antwort, aus der zu entnehmen ist, daß es mir weder für das Lob Gottes noch den heiligen Christenglauben nützlich, noch für die Mehrung der Gottesverehrung förderlich zu sein dünkt, wenn man den Juden ihre Schriften gewaltsam beschlagnahmen, unterdrücken und verbrennen wollte – abgesehen von und ausgenommen Schmähschriften, die man als >libelli famosi< bezeichnet, und verbotene Künste, die allen Menschen schädlich und daher nicht zu dulden sind, wie vorstehend ausgeführt. Denn die Juden sind gewissermaßen unsere >Capsarii<, Büchereiverwalter und Bibliothekare, die solche Bücher verwahren, aus denen wir Zeugnis für unseren Glauben erstellen können, wie der Kirchenlehrer St. Thomas sagt“ (L, 161).

Die vier Pro-Argumente, wie sie zu Beginn aufgestellt worden waren, werden auf der Basis der entwickelten Argumente und der eigenen zusammenfassenden Antwort (L, 161) von Reuchlin gegen Ende des Gutachtens (L, 161-169) als „nicht (rechts-)kräftig“ erwiesen: Sie stellen nach Reuchlin „keine ausreichende Einwendung“ dar (L, 161). Im Gegenzug formuliert Reuchlin insgesamt neun Konsequenzen, die aus seiner Sicht „viel Schlimmes“ ergeben würden, wenn es dennoch zur Vernichtung der jüdischen Schriften käme (L, 169-172). Im Schluß-Plädoyer (L, 172-174) geht Reuchlin auf die im Hintergrund stehende grundsätzliche Frage ein, ob Zwang ausgeübt werden darf, wenn es darum geht, jemanden zum christlichen Glauben zu führen. Reuchlin vergleicht dabei das Wegnehmen der Bücher mit dem Wegnehmen der Kinder der Ju-den zum Zwecke der Zwangstaufe, was beides unstatthaft sei:

„Denn wenn die Juden Frieden halten, dann soll man auch sie in Frieden lassen. Dies alles geschieht darum, daß sie nicht sagen können, wir wollten sie zu unserem Glauben drängen oder nötigen. … wir sollen die, welche nicht Christen sind, ungekränkt lassen und nichts von dem ihrigen begehren. Darum sollen wir ihre Kinder nicht ohne ihre [= der Eltern] Einwilligung taufen. Das halten auch die Lehrer der Heiligen Schrift aufrecht … Daraus darf entnommen werden, daß man ihnen auch ihre Bücher nicht gegen ihren Willen wegnehmen darf, denn Bücher sind manchen so lieb wie Kinder. Man gebraucht ja von den Dichtern die Redensart, daß sie die Bücher, die sie verfaßt haben, als ihre Kinder betrachten“ (L, 172f).

Mit Verweis auf das Kirchenrecht lehnt Reuchlin Zwangsmaßnah-men im Blick auf die Bekehrung zum christlichen Glauben strikt ab (L, 174). In diesem Zusammenhang plädiert Reuchlin dafür, die hebräischen Studien an den christlich-theologischen Fakultäten der Universitäten im Reich fest zu etablieren, um auf dem Wege der Erforschung und der geistigen Auseinandersetzung einen Dialog mit den Juden „mit vernünftigen und freundlichen Worten in Sanftmut“ führen zu können und sie auf diese Weise für den christlichen Glauben zu gewinnen (L, 173). Reuchlin macht dazu sehr konkrete Vorschläge: jede Universität solle verpflichtet werden, auf zehn Jahre je zwei Dozenten für den Hebräisch-Unterricht anzustellen; die dafür benötigten Bücher seien von den Juden gegen Kaution bereitzustellen, abzuschreiben bzw. für den christlichen Gebrauch zu drucken usw. Statt also die jüdischen Schriften zu vernichten, sollen sie auch von Christen ediert, gedruckt, gelesen, studiert, erforscht und diskutiert werden. Vergleicht man diesen Vorschlag Reuchlins mit der Ausgangsfrage, so ist wohl kaum eine eindeutigere Stellungnahme für den Erhalt der jüdischen Bücher denkbar. Das von Reuchlin formulierte „beschlußreife Urteil für diese ganze Streitsache“ lautet dementsprechend: „Man soll die Bücher der Juden nicht verbrennen, und man soll sie [die Juden] im Gespräch durch vernünftig vorgebrachte Gründe in Sanftmut und Güte mit Gottes Hilfe zu unserem Glauben führen“ (L, 174). Reuchlin gibt also in seinem Gutachten nicht nur eine klare juristische Antwort (L, 161) auf die Ausgangsfrage, sondern auch eine theologische Antwort auf das Anliegen Pfefferkorns und die Frage, welche Mittel geeignet sind, um die Juden für den christlichen Glauben zu gewinnen: nicht durch Zwangsmaßnahmen wie durch die Zwangstaufe oder durch das Wegnehmen ihrer Bücher, sondern im kenntnisreichen Eingehen auf ihre Schriften, in geistiger Ausei-nandersetzung, geleitet von den Prinzipien der Vernunft, der Sanftmut und der Güte – und letztlich eingedenk des Gnadencha-rakters des Glaubens „mit Gottes Hilfe“ (Verweis auf Röm 9, 18).

 

4. Zur Bedeutung von Reuchlins „Augenspiegel“

Fassen wir zusammen: Bei Reuchlins „Augenspiegel“ handelt es sich um ein bedeutendes Buch aus der Feder eines großen deutschen Humanisten, der zur Zeit des ersten Buchdrucks geboren wurde (das erste oder eines der ersten mit beweglichen Lettern gedruckte Buch, die Gutenberg-Bibel, entstand zwischen 1452 und 1454 in Mainz.) Der Autor war seit 1481/82, in den Anfangsjahren der 1477 gegründeten Tübinger Universität, einer der wichtigsten und engsten Rechtsberater des Universitätsgründers und an der Aufbauarbeit der Universität über viele Jahre direkt und indirekt beteiligt. Im Unterschied aber zu Graf Eberhard im Bart, der die noch in Tübingen wohnhaften Juden 1477 vertreiben ließ, hat Reuchlin 1510 in seinem Gutachten für den Kaiser und danach auch öffentlich im „Augenspiegel“ die juristisch gleichberechtigte Stellung der Juden im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation zur Geltung gebracht und das auch für die konkrete Praxis eingefordert. Zudem war Reuchlin einer der ersten christlichen Gelehrten, der des Hebräischen kundig war. Mit seinen bahnbrechenden Griechisch- und Hebräisch-Studien zählt er zu den Wegbereitern des Anliegens der Renaissance und der Reformation, „ad fontes“, zu den Quellen (nicht zuletzt zu den biblischen Urtexten), zurückzugehen und aus ihnen zu schöpfen, um so auf seine Weise lange vorher verschüttete Brunnen aufzugraben und dem Motto zu folgen „… helfen zu graben den Brunnen des Lebens“. Seinen Großneffen Philipp Melanchthon förderte Reuchlin in entscheidender Weise. Seit 1521 war Reuchlin an seiner frühen Wirkungsstätte, der Tübinger Universität, Professor für Hebräisch, bevor er 1522 starb – die Reformation war da schon voll im Gange. In jedem Fall gebührt Reuchlin ein Ehrenplatz in einer vollständigen Geschichte der Stadt und Universität Tübingen, was nicht ohne eine entsprechende Gedenk- und Erinnerungskultur geschehen kann.

Umso merkwürdiger muß erscheinen, daß das Gedenken Reuchlins in Tübingen in den vergangenen 500 Jahren bis heute wenig aktiv gepflegt wurde. Dabei könnte gerade das Gedenken an Reuchlins Eintreten für die Juden ein wohltuendes Gegengewicht bilden zu den antisemitischen Maßnahmen Graf Eberhards, mit denen das Jahr der Universitätsgründung überschattet ist und durch die Graf Eberhard bei allen Verdiensten, die positiv zu würdigen sind, auf der Stadt und Universität Tübingen einen Makel, ja eine Schuld hinterlassen hat, die in späteren Zeiten sogar noch besiegelt und verstärkt wurde, vor allem in der Zeit von 1933-1945 (Zerstörung der Tübinger Synagoge durch Brandstiftung in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938; Deportation der jüdischen Mitbürger in den Tod, sofern ihnen nicht die Flucht gelang; judenfeindliche Auswüchse nicht zuletzt im Lehrkörper der Tübinger Universität: vgl. Zapf, 65-227; Setzler u.a., 175-188). Gerade Tübingen hätte also Grund, sich Reuchlins mehr als bisher zu erinnern: nicht nur, um einen großen Mann zu ehren, sondern auch, um schuldhaften Elementen in der eigenen Geschichte diesen mit der Stadt und Uni-versität über viele Jahre verbundenen Mann entgegenzusetzen, der selbst einen Streit verursachte und im Streit standhielt, als es um die Juden ging und die Vernichtung ihres geistigen und religiösen Erbes drohte. Immerhin gibt es Anfang 2011 hoffnungsvolle Ansätze: In einem Leserbrief von Pfarrer Christoph Cless an die lokale Presse wurde der Vorschlag laut, eine Straße in Tübingen nach Reuchlin zu benennen (4.1.2011). Diesem Vorschlag hat der Tübinger Gemeinderat am 25.7.2011 zugestimmt (Schwäbisches Tagblatt vom 27.7.11, Seite 17). Das ist ein erfreulicher Schritt in die richtige Richtung; weitere deutliche sollten folgen – damit es zu mehr kommt als nur zu einem Zeichen: zu einem öffentlichen Bekenntnis zu denen, die durch Stadt und Universität in der älteren und jüngeren Vergangenheit Fürchterliches zu leiden hatten.

Das Buch „Augenspiegel“ ist nur zu einem geringeren Teil in Latein geschrieben; die größeren Teile sind in Deutsch gehalten – damit verbindet dieses Buch die lateinische Gelehrtensprache mit der deutschen Volkssprache. Gedruckt wurde das Buch 1511 in Tübingen – damit gehört es in die Frühzeit des Tübinger Buch-drucks und ist in dieser Frühzeit sein gewichtigstes Erzeugnis: „Dies ist weitaus die berühmteste unter den Schriften, die in jener Zeit in Tübingen gedruckt worden sind“ (Steiff, 79). Der Hersteller ist der zweite Tübinger Drucker, Thomas Anshelm. Er war Verleger, Lektor, Setzer, Drucker und Buchhändler in einer Person, wie das zu seiner Zeit noch üblich war. Der „Augenspiegel“ erschien zur Frankfurter Buchmesse im Herbst 1511 und wurde dort zu einem „Medienereignis“, das Phänomene antizipierte, die ein Jahrzehnt später in der Reformation mit den Schriften Luthers voll zum Tragen kamen. In diesem Sinne gehört Reuchlins „Augenspiegel“ zu den bedeutendsten Erzeugnissen des (deutschen) Buchhandels überhaupt. Der Text auf dem Titelblatt ist in besonderer Gestalt gesetzt und mit einer auffälligen Illustration versehen. Im 16. Jahr-hundert gab es nur eine einzige Auflage dieser Schrift, und aus diesem Grund und wegen ihrer Umstrittenheit (mit der sie die Umstrittenheit ihres Gegenstandes teilt bis hin zur Verurteilung und teilweisen Vernichtung von Exemplaren) gehört sie bis heute zu den Rarissima des antiquarischen Buchhandels. Bemerkenswert ist zudem, daß es sich um ein Buch handelt, das „Bücher“ zum Thema hat: ein Buch über Bücher, ein Buch zum Lob und Schutz anderer Bücher, das selbst angefeindet wurde und des Schutzes bedurfte und das selbst in vielfacher Hinsicht zu loben ist. Innerhalb der rechtlich definierten und für alle geltenden Grenzen (vgl. seine Aussagen zu den „Schmähschriften“) ist Reuchlin ein Verteidiger der Presse- und Druckfreiheit, der Freiheit, Bücher herzustellen, zu verbreiten, zu lesen, zu studieren und sich damit geistig auseinanderzusetzen. Damit gehören Reuchlin und sein „Augenspiegel“ zu einer vollständigen Geschichte des (deutschen) Buchhandels (vgl. Wittmann, 43; Weidhaas, 9. 80) und des Bücherwesens. Reuchlin steht für die Freiheit des gedruckten Wortes, für die Freiheit der Bücher: dafür war dieser Mann bereit, sein Können, sein Vermögen, seinen Namen, seine Ehre und – das darf man wohl angesichts der aus dem Mittelalter bekannten Methoden der Inquisition ohne Übertreibung sagen – sein Leben einzusetzen.

Nun finden sich bei Reuchlin und auch in seinem „Augenspiegel“ durchaus Formulierungen und Passagen, die uns heute auf den ersten Blick fremd vorkommen und die (vor allem, wenn sie aus dem Zusammenhang gerissen werden) bisweilen den Grundsätzen zuwiderzulaufen scheinen, wie sie hier dargestellt werden. Das gilt im Blick auf den „Augenspiegel“ z.B. für die zu seiner eigenen Ver-teidigung vorgetragenen Formulierungen, die er zu einem Zeitpunkt verfaßt hat, als er noch hoffen konnte, sich mit einigen Zugeständnissen in einzelnen Punkten (ohne den Kern der Sache aufzugeben oder zu widerrufen: Brod, 222) aus der Affäre ziehen und einen Prozeß vermeiden zu können. Aber auch anderes könnte benannt werden; einen zentralen Punkt will ich näher betrachten. Reuchlin blieb Kind seiner Zeit in seinen Ansichten zum grund-sätzlichen Verhältnis von Juden und Christen (genauer: von jüdi-schem und christlichem Glauben) und zur „Judenmission“. Von der Wahrheit des christlichen Glaubens war Reuchlin ebenso überzeugt wie von der Notwendigkeit, daß die Juden sich zu Jesus Christus bekehren müssen, um des ewigen Heiles im christlichen Sinne teilhaftig zu werden. Aber schon in der Art und Weise der Mission unterscheidet sich Reuchlin wohltuend nicht nur von Pfefferkorn und den Kölner Dominikanern, sondern auch von vielen anderen vor und nach ihm. Nach Reuchlin darf Mission auf gar keinen Fall mit Gewalt verbunden sein, weder gegen Personen noch gegen die Besitztümer der Betroffenen – auch nicht gegen deren Bücher, in denen das geistige Erbe tradiert und die geistige Identität zum Ausdruck kommt und bewahrt wird. Reuchlin wird nicht müde zu betonen, welche Art und Weise allein zu den Rahmenbedingungen und Voraussetzungen von Mission und jeglicher Auseinandersetzung gehört: Die Auseinandersetzung muß ohne Gewalt(androhung) allein durch Worte und Argumente im Geist der Sanftmut erfolgen.

Reuchlin aus heutiger Sicht z.B. vorzuwerfen, die Judenmission nicht verworfen zu haben, wäre ebenso unhistorisch wie ihm vor-zuwerfen, zu seiner Zeit mit dem damalig geltenden Recht argu-mentiert und nicht schon die in neuerer Zeit formulierten „Menschenrechte“ hochgehalten zu haben. Die Tatsache, daß deutsche Juden wie Geiger oder Graetz im 19. Jahrhundert und Brod im 20. Jahrhundert das Leben und das Werk von Johannes Reuchlin und insbesondere seinen „Kampf“ (Brod) für die Juden und die jüdischen Bücher, der ihn auch persönlich und existentiell viel gekostet hat, durchweg in den höchsten Tönen positiv würdi-gen, wäre wohl nicht in dieser Übereinstimmung erklärbar, wenn an der Haltung Reuchlins etwas grundsätzlich problematisch wäre. Den ausführlichen Monographien zu Reuchlin von Geiger und Brod merkt man geradezu in jeder Zeile an, wie sehr diese Autoren in dem von Reuchlin geführten „Kampf“ ihr eigenes Lebensthema und das Leitthema der jüdischen Geschichte insgesamt verdichtet und konzentriert sehen. Als merkwürdig muß es demgegenüber erscheinen, daß Reuchlin in Deutschland trotz vereinzelter Ruh-mesworte (z.B. von Herder und Goethe) ein Schattendasein im Kontext der geistigen Bildung führt (die erste umfassende Werk-ausgabe Reuchlins nach den Editionen des 16. Jahrhunderts begann erst im Jahre 1996). Dieser Umstand mag u.a. darin seinen Grund haben, daß Reuchlins Eintreten für die Juden und die jüdischen Bücher in den letzten 500 Jahren nicht nur positive Folgen für seine Nachwirkung in der geistigen Überlieferung Deutschlands hatte. Wenn das der Fall ist, dann kann ich dem darin zum Ausdruck kommenden Ungeist nur alles bisher Gesagte entgegenhalten, und schließlich das, was kein Geringerer als Ger-shom Scholem in seiner Rede zur Verleihung des Reuchlin-Preises der Stadt Pforzheim 1969 gesagt hat:

„Indem ich Ihnen meinen Dank für die Verleihung des Reuchlin-Preises sage, bin ich mir bewußt, daß Sie damit nicht nur den Ge-lehrten, der sein Leben der Erforschung und Deutung der Ge-schichte und der Sachverhalte der jüdischen Mystik gewidmet hat, sondern auch den Menschen ehren wollten, der dieses Leben zu-gleich für die Arbeit an der geistigen und gesellschaftlichen Wie-dergeburt des jüdischen Volkes eingesetzt hat.

Wenn ich an Seelenwanderung glaubte, würde ich wohl manchmal denken können, unter den neuen Bedingungen der Forschung eine Art Reinkarnation Johannes Reuchlins, des ersten Erforschers des Judentums, seiner Sprache und seiner Welt, und speziell der Kab-bala, zu sein, des Mannes, der vor fast fünfhundert Jahren die Wis-senschaft vom Judentum in Europa ins Leben gerufen hat“ (Scholem, 247).

Der Name Reuchlins gehört in jede vollständige Geschichte der Juden und (der Erforschung) des Judentums. Als Jurist hat Reuchlin auf der Basis der zu seiner Zeit geltenden Rechtstexte und Rechtsgrundlagen die Juden als gleichberechtigte Mitbürger im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation bezeichnet und in-folgedessen alles, was sie sind und haben, verteidigt: ihr Leib und Leben, die Ausübung und Pflege ihres Glaubens, ihren Besitz und nicht zuletzt ihre Bücher. So wie er es kategorisch verwirft, den Juden ihre Kinder zu nehmen, um sie zwangsweise zu taufen, so hat er es kategorisch abgelehnt, den Juden ihre Bücher zu nehmen, die „manchen so lieb wie Kinder“ seien (L, 173).

Wie Ackermann gezeigt hat, steht Reuchlin mit seiner juristischen Feststellung und Ableitung der rechtlichen Stellung der Juden im Reich nicht allein da: Vielmehr bezeichnet seine Position den juris-tischen Theorie-Konsens der meisten Rechtsgelehrten seiner Zeit. Doch die Rechts-Praxis sah im Reich ja schon lange vor Reuchlin und auch in seiner Zeit und noch lange nach ihm völlig anders aus: Juden waren nach Leib und Leben bedroht, sie wurden wegen fa-denscheiniger Gründe und aus nichtigen Anlässen allenthalben dis-kriminiert, aus ihren Häusern gejagt, vertrieben, verfolgt, zwangs-getauft und ermordet. Juden ihren Besitz oder ihre Bücher zu nehmen – das war im Vergleich zu dem, was ihnen sonst noch drohte, geradezu das kleinere Übel. Reuchlins Position zeichnet sich dadurch aus, daß er die juristische Theorie auch in der Praxis durchhielt und im konkreten Fall des Bücherstreites bewährte und zur Geltung brachte, ohne wegen „höherer“ Gründe und Zwecke – und sei es zum Zwecke ihrer Missionierung – ihren rechtlichen Status einzuschränken oder aufzuheben. Darum hat es Reuchlin auch kategorisch abgelehnt, mit Hilfe der theologischen Konstruk-tion der Juden als „Knechte“ der Christen, die demgegenüber als die „freien Herren“ galten (eine Konstruktion, die Reuchlin theologisch nicht in Frage stellt, weil auch sie zum Konsens der Zeit gehört), die rechtliche Stellung der Juden im Reich aufzuweichen oder zu unter-laufen. Und letztlich ist entscheidend, was Reuchlin in Theorie und Praxis vor der höchsten weltlichen Instanz – dem Kaiser – zur Geltung bringt. Aber daß Reuchlins „Augenspiegel“ über das Juristische hinaus auch einen theologischen Mehrwert hat, wird deutlich, wenn er aus dem biblischen Gebot „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“ ableitet, daß die jüdischen Mitbürger nicht nur rechtlich zu achten, sondern – als Nächste – zu lieben sind. So redet selten ein Jurist, so redet ein Mann, der diejenigen liebt, die er rechtlich zu schützen unternimmt.

Als erster christlicher Gelehrter war Reuchlin nicht nur selbst des Hebräischen mächtig, sondern hat sich auch bahnbrechend für dessen weitere Erforschung eingesetzt. Damit hat Reuchlin das Anliegen Pfefferkorns und seiner Unterstützer geradezu umgekehrt und vom Kopf auf die Füße gestellt: Auf der Basis seiner Kenntnis der hebräischen Sprache und der Inhalte der jüdischen Literatur (die er kundig in Gattungen einzuteilen verstand) hat er nicht nur eindeutig gegen deren Beschlagnahme und Vernichtung votiert, sondern im Gegenteil die Ausweitung der akademischen Studien der hebräischen Literatur gefordert und entsprechend konkrete Vorschläge zur Institutionalisierung dieser Studien an allen Univer-sitäten gemacht. In der anerkennenden und wohlmeinenden Art und Weise, wie Reuchlin Juden aktiv aufsuchte, ihnen begegnete, mit ihnen und von ihnen sprach, von ihnen bereit war zu lernen, mit ihren Bücherschätzen umging – mit all dem, in einem Wort: mit seiner ganzen Existenz, verkörpert Reuchlin geradezu das Idealbild dessen, was heute im Blick auf den Dialog zwischen Christen und Juden und den Dialog zwischen den Religionen überhaupt zurecht gefordert wird. Reuchlins Grundhaltung ist – nicht nur im Falle der Zustimmung, sondern auch des Widerspruchs – von Anerkennung auf Grundlage wirklicher Kenntnis geprägt; das unterscheidet ihn von vielen seiner und heutiger Zeitgenossen, denen Kenntnisse mangelten oder mangeln. Zur Zeit Reuchlins verband sich die Ignoranz und Unkenntnis mit der Verweigerung von Anerkennung – heute verbindet sich nicht selten die Anerkennung mit Unkenntnis, was die Anerkennung eigentlich von innen her aus-höhlt und auf Dauer brüchig macht. Anerkennung und Kenntnis bedingen einander, gehören unauflöslich zusammen – dafür steht der Name Reuchlins. So wie Reuchlin in eine vollständige Ge-schichte des jüdisch-christlichen Dialogs gehört, so gehört er auch in eine vollständige Geschichte der Wissenschaft und der Toleranz.

Auch wenn das Gutachten Reuchlins der These Ackermanns ent-sprechend ein Rechtsgutachten und kein spezifisch theologisches ist, kann es dennoch in seiner theologischen Bedeutung gar nicht hoch genug gewürdigt werden. Obwohl Reuchlin von Haus aus kein Fach-Theologe war, hat er sich nicht gescheut, theologisch zu argumentieren, vor allem auf dem Feld der biblischen Exegese und auf der Grundlage der sprachlichen Kenntnis der biblischen Urtexte. Aus diesem Grunde ist Reuchlin auch da, wo er aus heutiger Sicht exegetisch irrt, seinen Gegnern weit überlegen: weil er bereit ist, sich die Grundlagen jeder Hermeneutik anzueignen und sie zum Maßstab der Auslegung biblischer Texte zu machen – nicht zuletzt da, wo die sprachlich kompetente Auslegung den theologischen Vorurteilen und Verirrungen widersprechen muß. Wenn Reuchlin die Fachtheologen seiner Zeit wegen ihrer Unkenntnis der biblischen Sprachen tadelt und sie zu ihrer ureigensten Sache zurückruft, indem er ihnen das Studium der biblischen Sprachen als unersetzliche Notwendigkeit auferlegt, schlägt er sie eindrucksvoll mit ihren eigenen Waffen und erweist sich auch auf theologischem Feld als der bessere „Theologe“. Wie die neuere Reuchlin-Forschung gezeigt hat, bildet der theologisch brisante Streit um die methodischen Grundlagen der Hermeneutik und der Exegese geradezu den Kern des Streites, der Reuchlins letztes Lebensjahrzehnt überschattete und der letztlich doch noch zur Verurteilung des „Augenspiegel“ durch den Papst führte. Daß ein Rechtsgelehrter und Philologe, der kein Theologe war und der auch keine offizielle theologische Lehrbefugnis innehatte, den Fachtheologen auf ihrem eigenen Feld entgegentrat und sie herausforderte, konnten diese nicht unwider-sprochen lassen, sondern mußten ihn – als ihnen die Argumente ausgingen – mit all den Mitteln und Drohungen der Inquisition angreifen, die sie zur Verfügung hatten: Reuchlin sollte als Ketzer verdammt und der „Augenspiegel“ zur Gänze verurteilt werden.

Genau an der von Reuchlin bezeichneten Stelle sollte wenige Jahre später Martin Luther den Hebel ansetzen: Luther setzte seine eigene Bibelauslegung und insbesondere seine Auslegung der paulinischen Rechtfertigungslehre gegen die bisherige Exegese und Theologie: und das nicht bloß auf der Basis persönlicher Gewissensüber-zeugung, sondern auf der Basis von genauer Exegese und von (mit Hilfe der biblischen Sprachen gewonnenen) Erkenntnissen, die den früheren Verfahren und Erkenntnissen überlegen waren. Dabei konnten Luther und seine Mitstreiter u.a. auch an die Ergebnisse von Reuchlins Forschungen anknüpfen. In diesem Sinne war Reuchlin einer der Wegbereiter der Reformation, auch wenn er selbst Distanz zur Reformation hielt und ihr nicht beitrat. In diesem und wohl nur in diesem Sinne verstanden Reuchlins Gegner Reuchlin besser als er sich selbst: denn im Blick auf den theologisch bedeutsamen Kern des Streites mußte ihnen Reuchlin ebenso gefährlich erscheinen wie Martin Luther. Ohne Luther und ohne die aufkommende Reformation wäre es wohl nicht mehr zur Verurteilung des „Augenspiegel“ gekommen. Darum gehört Reuchlin zusammen mit seinem Buch „Augenspiegel“ zu einer vollständigen Geschichte der Hermeneutik und der Theologie (und auch zu einer vollständigen Geschichte der Reformation, wobei anzumerken ist, daß sich Reuchlins Haltung zu den Juden grund-sätzlich von derjenigen Luthers, wie sie vor allem in dessen späten Schriften zum häßlichen und beschämenden Ausdruck kommt, unterscheidet).

Nicht weiter ausführen möchte ich an dieser Stelle Folgerungen, wie sie schnell zur Hand sind, wenn die Gegenwartsrelevanz einer Person oder Sache auf den Punkt gebracht werden soll. Wie Wortsman in seinem Artikel in der ZEIT vom 5.1.2011 könnte man im Blick auf Reuchlins „Augenspiegel“ von multikultureller Vielfalt und religiöser Toleranz sprechen, auf die sog. Sarrazin-Debatte in Deutschland und die Ankündigung einer Koran-Verbrennung durch einen christlichen Prediger in den USA (beides geschah 2010; 2011 kam es dann tatsächlich zu einer demonstrativen Koran-Verbrennung) hinweisen. Das mag alles berechtigt sein. Mein Ding ist es eher, es wie Kierkegaard den Lesern zu überlassen, Parallelen zur Gegenwart zu entdecken und den Prozeß der Aneignung im heutigen Kontext selbst zu übernehmen. Daß Reuchlin Kind seiner Zeit war und uns Heutigen in der einen oder anderen Hinsicht fremd ist, habe ich schon erwähnt. Das sollte man nicht vergessen, wenn man sich ihm nähern und ihn würdigen will. Im Übrigen kann ich nur empfehlen: Tolle, lege! Nimm und lies! Die eigene Lektüre ist durch nichts zu ersetzen; diese Schrift soll nicht zuletzt zum eigenen Lesen von Reuchlins „Augenspiegel“ anregen.

 

Literaturhinweise:

Markus Rafael Ackermann, Der Jurist Johannes Reuchlin (1455-1522), Berlin 1999

Eli Barnavi, Universalgeschichte der Juden. Von den Ursprüngen bis zur Gegenwart. Ein historischer Atlas, Herausgeber der deutschen Ausgabe Frank Stern, Neuauflage aktualisiert von Michel Opatowski, München 2004

Haim Beinart, Geschichte der Juden. Atlas der Verfolgung und Vertreibung im Mittelalter, Augsburg 1998

Josef Benzing, Bibliographie der Schriften Johannes Reuchlins im 15. und 16. Jahrhundert, Bad Bocklet – Wien – Zürich – Florenz 1955 (Bibliotheca Bibliographica Band XVIII)

Josef Benzing, Buchdruckerlexikon des 16. Jahrhunderts (Deutsches Sprachgebiet), Frankfurt am Main 1952

Briefe von Dunkelmännern (Epistolae obscurorum virorum) an Magister Ortuin Gratius aus Deventer, Professor der schönen Wissenschaften zu Cöln. Zum erstenmal ins Deutsche übersetzt von Dr. Wilhelm Binder, Gera 1885 (Reprint Wolfenbüttel o.J. [2007?])

Max Brod, Johannes Reuchlin und sein Kampf. Eine historische Monographie, Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1965 (Nachdruck Wiesbaden 1988) (darin Abbildung des Titelblatts von Reuchlins „Augenspiegel“ 121)

Der deutsche Buchhandel in Urkunden und Quellen. Herausgege-ben von Hans Widmann unter Mitwirkung von Horst Kliemann und Bernhard Wendt, Erster und Zweiter Band, Hamburg 1965

Joachim Camerarius, Das Leben Philipp Melanchthons, Übersetzt von Volker Werner mit einer Einführung und Anmerkungen versehen von Heinz Scheible, Leipzig 2010

Christoph Cless, Leuchtender Name. Ein Vorschlag, falls die Tü-binger Karl-Adam-Straße umbenannt werden sollte, Leserbrief in: Schwäbisches Tagblatt vom 4.1.2011 (Leserbrief-Seite)

Chiara Frugoni, Das Mittelalter auf der Nase. Brillen, Bücher, Bankgeschäfte und andere Erfindungen des Mittelalters. Aus dem Italienischen von Verena Listl, München 2003 ³2005

Ingrid Gamer-Wallert, Graf Eberhards Palme. Vom persönlichen Zeichen zum Universitätslogo, Tübingen 2003

Ludwig Geiger, Artikel „Johann Reuchlin“, in: Allgemeine Deutsche Biographie Band 28, Leipzig 1889, 785-799

Ludwig Geiger, Johann Reuchlin. Sein Leben und seine Werke, Leipzig 1871 (Nachdruck von Bibliolife, Charleston 2010)

Ludwig Geiger, Das Studium der hebräischen Sprache in Deutsch-land vom Ende des XV. bis zur Mitte des XVI. Jahrhunderts, Breslau 1870 (Nachdruck La Vergne, TN USA, 26. January 2011)

H[einrich]. Graetz, Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Aus den Quellen neu bearbeitet, Bände 1-11 (in 13) (zu Reuchlin Band 9, Leipzig 41907, 63-195)

Johannes Haller, Die Anfänge der Universität Tübingen 1477-1537. Zur Feier des 450jährigen Bestehens der Universität im Auftrag ihres grossen Senats dargestellt, Stuttgart 1927

Helmut Hiller / Stephan Füssel, Wörterbuch des Buches, Sechste grundlegend überarbeitete Auflage, Frankfurt am Main 2002

Walter Jens, Eine deutsche Universität. 500 Jahre Tübinger Gelehr-tenrepublik, München 1977

Europas Juden im Mittelalter, Herausgegeben vom Historischen Museum der Pfalz Speyer, Mit Beiträgen von Alfred Haverkamp, Javier Castano, Werner Transier, Renate Engels, Pia Heberer, Martha Keil, Frederek Musall, Markus Wener, Speyer 2004 (Austellungskatalog)

Klaus Kienzler, Art. Reuchlin, Johannes, in: Biographisch-Biblio-graphisches Kirchenlexikon (BBKL), Band VIII (Herzberg 1994), Sp. 77-80

Kirche und Synagoge. Handbuch zur Geschichte von Christen und Juden. Darstellung mit Quellen, Herausgegeben von Karl Hein-rich Rengstorf und Siegfried von Kortzfleisch, Band I und II, Stuttgart 1968-1970 (darin zu Reuchlin I, 274-285)

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K. Klüpfel, Geschichte und Beschreibung der Stadt und Universität Tübingen, Erste [Stadt] und zweite [Universität] Abtheilung, Tübingen 1849

Heinrich Kramer (Institoris), Der Hexenhammer / Malleus Male-ficarum. Neu aus dem Lateinischen übertragen von Wolfgang Behringer, Günter Jerouschek und Werner Tschacher, Heraus-gegeben von Günter Jerouschek und Wolfgang Behringer, München 2000, 82010

Stefan Lang, Ausgrenzung und Koexistenz. Judenpolitik und jüdi-sches Leben in Württemberg und im „Land zu Schwaben“ (1492-1650), Schriften zur Südwestdeutschen Landeskunde Band 63, Ostfildern 2008

Sönke Lorenz, Reuchlin and the University of Tübingen, in: Ideas and Cultural Margins in Early Modern Germany. Essays in Honor of H. C. Erik Midelfort, ed. By Marjorie Elizabeth Plummer a. Robin Barnes, Surrey (UK) a. Burlington (VT) 2009, S. 149-163

Sönke Lorenz und Volker Schäfer (Hg.), Tubingensia. Impulse zur Stadt- und Universitätsgeschichte. Festschrift für Wilfried Setzler zum 65. Geburtstag, Tübinger Bausteine zur Landesgeschichte Band 10, Tübingen und Ostfildern 2008

[Melanchthon.] Vom Schüler der Burse zum „Lehrer Deutsch-lands“. Philipp Melanchthon in Tübingen, Herausgegeben von Sönke Lorenz, Reinhold Rieger, Ernst Seidl, Karlheinz Wieg-mann. Mit Beiträgen von Matthias Asche, Frank Brendle, Günter Frank, Ulrich Köpf, Wilfried Lagler, Sönke Lorenz, Udo Rauch, Karin Reich, Reinhold Rieger, Wilfried Setzler. Tübinger Kataloge Nr. 88 (herausgegeben von der Universitätsstadt Tübingen, Fachbereich Kultur), Tübingen 2010

Heiko A. Oberman, Wurzeln des Antisemitismus. Christenangst und Judenplage im Zeitalter von Humanismus und Reformation, Berlin 1981

Hans Peterse, Jacobus Hoogstraeten gegen Johannes Reuchlin. Ein Beitrag zur Geschichte des Antijudaismus im 16. Jahrhundert, Mainz 1995

David H. Price, Johannes Reuchlin and the Campaign to Destroy Jewish Books, Oxford University Press 2011

Joseph Ratzinger – Benedikt XVI., Jesus von Nazareth, Zweiter Teil: Vom Einzug in Jerusalem bis zur Auferstehung, Freiburg – Basel – Wien 2011

Doctor Johannsen Reuchlins der K.M. als Ertzhertzogen zu Oster-reich auch Churfürsten vnd fürsten gemainen bundtrichters inn Schwaben warhafftige entschuldigung gegen vnd wider ains getaufften iuden genant Pfefferkorn vormals getruckt vßgangen vnwarhaftigs schmachbüchlin Augenspiegel (Tübingen, Thomas Anshelm, 1511)

Johann Reuchlin, Augenspiegel (Tübingen, Thomas Anshelm, 1511). Mit einem Nachwort von Josef Benzing, Quellen zur Geschichte des Humanismus und der Reformation in Faksimile-Ausgaben. Herausgegeben von Bernhard Wendt, Band 5, München [1961]

Johannes Reuchlin, Gutachten über das jüdische Schrifttum. Her-ausgegeben und übersetzt von Antonie Leinz-v. Dessauer, Stuttgart 1965

Johannes Reuchlin, Deutschlands erster Humanist. Ein biographi-sches Lesebuch von Hans-Rüdiger Schwab, München 1989 (zi-tiert als „L“)

Johannes Reuchlin, Henno. Komödie. Lateinisch und Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Harry C. Schnur, Stuttgart 1970 / 1981

Johannes Reuchlin, De rudimentis hebraicis libri III, Nachdruck der Ausgabe Pforzheim 1506, Hildesheim und New York 1974

Johannes Reuchlin, Briefwechsel, Bearbeitet von Matthias Dall’Asta und Gerald Dörner (Band I unter Mitwirkung von Stefan Rhein), Stuttgart – Bad Cannstatt 1999ff, Band I 1477-1505 1999, Band II 1506-1513 2003, Band III 1514-1517 2007

Johannes Reuchlin, Sämtliche Werke. Herausgegeben von Widu-Wolfgang Ehlers, Hans-Gert Roloff und Peter Schäfer, Stuttgart – Bad Cannstatt 1996ff, Band I,1: Der verbo mirifico – Das wundertätige Wort (1494) 1996; Band II,1: De arte cabalistica libri tres – Die Kabbalistik 2010; Band IV: Schriften zum Bücherstreit 1. Teil: Reuchlins Schriften (darin der „Augenspiegel“ 13-168) 1999 (der Band IV,1 zitiert als „W“)

Johannes Reuchlin, Recommendation Wether to Confiscate, De-stroy and Burn All Jewish Books. A Classic Treatise against Anti-Semitism, Translated, Edited and with a Foreword by Peter Wortsman, Critical Introduction by Elisheva Carlebach, A Sti-mulus Book, Paulist Press New York, Mahwah N.J., 2000

Johannes Reuchlins Bibliothek gestern & heute. Schätze und Schicksal einer Büchersammlung der Renaissance, Ausstellung im Stadtmuseum Pforzheim, 9. September – 11. November 2007 – Katalog, bearbeitet von Matthias Dall’Asta und Gerald Dörner, im Auftrag der Stadt Pforzheim herausgegeben von Isabel Greschat, Heidelberg – Ubstadt-Weiher – Basel 2007

Pforzheimer Reuchlinpreis 1955-1993. Die Reden der Preisträger, Heidelberg 1994

Pforzheimer Reuchlinschriften (Herausgegeben von der Stadt Pforzheim):

1. Guido Kisch, Zasius und Reuchlin. Eine rechtsgeschichtlich-vergleichende Studie zum Toleranzproblem im 16. Jahrhundert, Konstanz – Stuttgart 1961

3. Reuchlin und die Juden. Herausgegeben von Arno Herzig und Julius H. Schoeps in Zusammenarbeit mit Saskia Rohde, Sigma-ringen 1993

4. Johannes Reuchlin 1455-1522. Nachdruck der 1955 von Man-fred Krebs herausgegebenen Festgabe. Neu herausgegeben und erweitert von Hermann Kling und Stefan Rhein, Sigmaringen 1994

5. Reuchlin und die politischen Kräfte seiner Zeit. Herausgegeben von Stefan Rhein, Sigmaringen 1998

6. Charles Zika, Reuchlin und die okkulte Tradition der Renais-sance, Sigmaringen 1998

7. Reuchlin und Italien. Herausgegeben von Gerald Dörner, Stuttgart 1999

8. Die Welt im Augenspiegel. Johannes Reuchlin und seine Zeit. Herausgegeben von Daniela Hacke und Bernd Roeck, Stuttgart 2002

9. Verzeichnis der Hebraica in der Bibliothek Johannes Reuchlins. Zusammengestellt und erläutert von Wolfgang von Abel und Reimund Leicht, Ostfildern 2005

11. Reuchlin und seine Erben. Forscher, Denker, Ideologen und Spinner. Herausgegeben von Peter Schäfer und Irina Wandrey, Ostfildern 2005

12. Reuchlins Freunde und Gegner. Kommunikative Konstellationen eines frühneuzeitlichen Medienereignisses. Herausgegeben von Wilhelm Kühlmann, Ostfildern 2010

Gershom Scholem, Die Erforschung der Kabbala von Reuchlin bis zur Gegenwart, in: Judaica 3: Studien zur jüdischen Mystik, Frankfurt am Main 1973 52003

Wilfried Setzler, Benigna Schönhagen, Hans-Otto Binder, Kleine Tübinger Stadtgeschichte, Tübingen 2006

Karl Steiff, Der erste Buchdruck in Tübingen (1498-1534). Ein Beitrag zur Geschichte der Universität, Tübingen 1881 (Nach-druck 1963) (darin Abbildung des Titelblatts von Reuchlins „Augenspiegel“ 78)

David Friedrich Strauß, Ulrich von Hutten. Mit 38 zeitgenössischen Bildern, Meersburg und Leipzig 1930

Kurt Sütterlin, Reuchlin – glückliche Idee, in: Schwäbisches Tagblatt vom Mittwoch, 26. Januar 2011, Seite 20 (Mittwochs-Spalte)

Jürgen Sydow, Geschichte der Stadt Tübingen. I. Teil: Von den Anfängen bis zum Übergang an Württemberg 1342, Mit Katas-terplan von 1819. Tübingen 1974

Leo Trepp, Geschichte der deutschen Juden, Stuttgart – Berlin – Köln 1996 (darin zu Reuchlin 48-51 und Abbildung des Titel-blatts von Reuchlins „Augenspiegel“ 49)

[Tübingen] Eine Stadt des Buches: Tübingen 1498-1998. Mit Bei-trägen von Gerd Brinkhus, Wilfried Lagler, Klaus Schreiner. Bearbeitet von Gerd Brinkhus, Wilfried Lagler, Claudia Pachnicke. Tübinger Kataloge (Herausgegeben vom Kulturamt der Universitätsstadt Tübingen) Nr. 50, Ausstellung im Stadt-museum 29. März bis 14. Juni 1998, Tübingen 1998

500 Jahre Eberhard-Karls-Universität Tübingen 1477-1977 „… helfen zu graben den Brunnen des Lebens“. Historische Jubilä-umsausstellung des Universitätsarchivs Tübingen, Bearbeitet von Uwe Jens Wandel, Gudrun Emberger, Irmela Klöden, Volker Schäfer. Tübingen 1977 (Ausstellungskataloge der Universität Tübingen Nr. 8 )

Die Universität Tübingen im Nationalsozialismus, Herausgegeben von Urban Wiesing, Klaus-Rainer Brintzinger, Bernd Grün, Horst Junginger, Susanne Michl, Contubernium. Tübinger Bei-träge zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte, Herausge-geben von Jörg Baten, Ewald Frie, Andreas Holzem, Ulrich Köpf, Sönke Lorenz, Anton Schindling, Jan Schröder und Ur-ban Wiesing, Band 73, Stuttgart 2010

E[rnst]. Voulliéme, Die deutschen Drucker des fünfzehnten Jahr-hunderts. Kurzgefaßte Einführung in die Monumenta Germaniae et Italiae Typographica, Berlin und Leipzig 1916

Peter Weidhaas, Zur Geschichte der Frankfurter Buchmesse, Frankfurt am Main 2003

Hans Widmann, Geschichte des Buchhandels vom Altertum bis zur Gegenwart. Die Entwicklung in Umrissen auf Grund der Darstellung von Ernst Kuhnert neu bearbeitet und erweitert, Wiesbaden 1952

Hans Widmann, Tübingen als Verlagsstadt. Mit 16 Tafeln, Contu-bernium. Beiträge zur Geschichte der Eberhard-Karls-Universität Tübingen, Herausgegeben im Auftrag des Senats von Hansmartin Decker-Hauff, Band 1, Tübingen 1971 (darin zu Reuchlin S. 23 und Abbildung des Titelblatts von Reuchlins „Augenspiegel“ im Tafelteil Abb. 4)

[Hans-Peter Willi], 500 Jahre Buchdruck in Tübingen 1498 – 1998. Katalog 4: 500 Bücher aus Tübingen, Antiquariat H. P. Willi, Tübingen 1998

Hans-Peter Willi, „Des vielen Büchermachens ist kein Ende“. The-ologische Literatur im Spannungsfeld von Wissenschaft und Ökonomie, Tübingen 2006 (Privatdruck)

Reinhard Wittmann, Geschichte des deutschen Buchhandels. Ein Überblick, München 1991

Peter Wortsman, „Verbrennt nicht, was ihr nicht kennt!“, Artikel in: DIE ZEIT Nr. 2-2011 (5.1.2011), Seite 16

Lilli Zapf, Die Tübinger Juden. Eine Dokumentation, Tübingen 1974, 42008

 

 

Nachwort und Danksagung

Äußerer Anlaß für die Aufnahme des Titelblatts von Johannes Reuchlins „Augenspiegel“ in mein Geschäftslogo war das 500-jährige Tübinger Buchdruckjubiläum: Am 24. März 1498 wurde zum ersten Mal in Tübingen ein Buch gedruckt, ein theologisches Werk von Paulus Scriptoris aus der Presse von Johann Otmar, dem Tübinger Erstdrucker. Zu diesem Anlaß gab es 1998 eine Ausstel-lung im Tübinger Stadtmuseum („Eine Stadt des Buches. Tübingen 1498-1998“, Titelblatt des „Augenspiegel“ im Ausstellungskatalog auf Seite 25). Ich selbst hatte zu diesem Anlaß Bücher, die seit 1498 in Tübingen gedruckt oder verlegt worden waren, zusammen-getragen und in meinem Antiquariatskatalog Nr. 4 aufgenommen, der zum 24. März 1998 unter dem Titel: „500 Jahre Buchdruck in Tübingen 1498-1998. 500 Bücher aus Tübingen“ erschien. Neben dem Tübinger Erstdruck und vielen anderen Büchern aus der 500-jährigen Buchdrucktradition fand dabei auch Reuchlins „Augen-spiegel“ Eingang (Seite 16 mit einer Abbildung des Titelblatts). Davon ausgehend avancierte das Titelblatt von Reuchlins „Augen-spiegel“ vor über 12 Jahren zum geschäftlichen Logo meiner Buchhandlung; es ist auf der homepage www.hpwilli.de zu sehen, auf Tüten und Taschen, Bleistiften, Postkarten und Lesezeichen usw. Auch das äußere Erscheinungsbild des Tübinger Ladengeschäfts in der Wilhelmstr. 8 ist davon bestimmt: das Titelblatt befindet sich auf der gläsernen Eingangstür und auf einer Leuchttafel.

Ich wüßte nicht so leicht ein anderes Buch zu nennen, das in einem vergleichbaren äußeren und inneren Bedeutungsgehalt und Bezie-hungsreichtum all das in höchster Verdichtung und Konzentration artikuliert und in der Auseinandersetzung bewährt hat, was ich mit meiner Buchhandlung zu meiner Zeit und an meinem Ort sein und zum Ausdruck bringen will. Reuchlin selbst hat in einer Zeit, in der Bücher sehr kostbar waren, die Formulierung geprägt: „Bücher sind manchen so lieb wie Kinder“ (L, 173). In einem ähnlichen Sinn möchte ich sein Buch „Augenspiegel“ als ein besonders kostbares Geschenk betrachten, das mir im Zuge meiner antiquarischen und buchhändlerischen Tätigkeit zugefallen ist und das ich durch die Art und Weise, wie ich meine Buchhandlung zusammen mit meinen Mitarbeitern führe, innerlich aneignen möchte, um es kraft seines inneren Lichtes leuchten zu lassen und all das, was damit verbunden ist, auch an spätere Zeiten und Generationen weiterzugeben.

Das 500-jährige Jubiläum von Reuchlins „Augenspiegel“ fällt zu-sammen mit meinem 15-jährigen Geschäftsjubiläum: Grund genug, nicht nur dankbar innezuhalten, sondern diesen Dank auch einmal auszusprechen. Denn „was hast du, das du nicht empfangen hast?“ (1. Korinther 4, 7).

Vor fast 30 Jahren führte mich das Theologie- und Philosophiestu-dium zur Stadt und Universität Tübingen, die mir – auch im geisti-gen Sinne – zur Heimat wurde und in der ich mich entfalten konnte. Zunächst in der Studentengruppe der SMD und wenig später in der Tübinger Kreuzkirche fand ich ein geistliches Zuhause. Meinen akademischen Lehrern an der hiesigen Universität, allen voran Prof. Dr. Rüdiger Bubner und Prof. Dr. Eberhard Jüngel, danke ich ebenso wie meinen Freunden, die ich während meiner Studienzeit in Tübingen kennenlernte – stellvertretend für alle nenne ich Prof. Dr. Sven Grosse, Prof. Dr. Hans-Peter Großhans, Dr. Tim Hagemann, Dr. Albrecht Haizmann, Prof. Dr. Heinzpeter Hempelmann, Prof. Dr. Boyo Ockinga und Frank Zielonka.

Hier in Tübingen konnte ich eine Buchhandlung gründen, wie sie mir vorschwebte, und hier fand ich voller Dankbarkeit vom Tag meiner Geschäftseröffnung an zahlreiche Kunden aus der Nähe und aus der Ferne, die mein Angebot zu schätzen wußten: Ohne meine Kunden wäre meine Buchhandlung nicht das geworden, was sie heute ist. Dankbar erwähne ich meine Kollegen im Buchhandel und Verlagswesen, die viel zum geistigen Klima Tübingens beitragen. Insbesondere danke ich meinen Kollegen Norbert Schuler („Antiquariat Bader“, Tübingen) und Reinhard Schulte (ehemalige „Buchhandlung in der Gartenstraße“, Tübingen), die mich durch ihr Vorbild lehrten, ein Antiquariat und eine Buchhandlung zu führen, sowie meinen Mitarbeitern Georg Hartmann und Jens Möller, die mir beim Korrekturlesen dieser Schrift geholfen haben. Außer den bereits Genannten sind seit 1996 in meiner Buchhandlung tätig gewesen: Joachim Bleyl, Dr. Joachim Eberhardt, Dr. Rudolf Pollach, Daniel Seger, Dr. Mike Stange, Stephan Steiner, Oliver Wieters – ihnen allen gilt mein Dank.

Zu guter Letzt danke ich meinen Eltern, meiner Frau und unseren Söhnen, von denen ich auf meinem ganzen Weg in überfließendem Maße Beistand und Liebe erfahren habe.

 

Tübingen, am 22. Mai 2011 Hans-Peter Willi

Tübinger Bücherfest

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Apr
21

„Das Tübinger Bücherfest war ein voller Erfolg: großartige Autoren, begeisterte Besucher und wunderschönes Wetter. Roger Willemsen sprach vom „Woodstock der Literatur“, eine Besucherin nannte das Bücherfest einen „Kirchentag der Literatur“.“

So blickt man in Tübingen auf frühere Bücherfeste zurück. 2021 fand das 12. Bücherfest statt. Das 13. Tübinger Bücherfest findet vom 22.-24.9.2023 statt..

Das Programm und alle weiteren Informationen finden Sie auf dieser Seite: http://www.tuebinger-buecherfest.de/

Auf dieser Seite finden Sie auch ausführliche Rückblicke auf frühere Bücherfeste in Tübingen.

Verbinden Sie Ihren Besuch auf dem Bücherfest mit einem Besuch in unserer Buchhandlung!

 

„Des vielen Büchermachens ist kein Ende“

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Mai
1


Theologische Literatur im Spannungsfeld von Wissenschaft und Ökonomie

Hans-Peter Willi

 

Sehr geehrter Herr Ephorus und lieber Herr Studieninspektor,
sehr geehrte Repetentinnen und Repetenten,
liebe Stiftlerinnen und liebe Stiftler, sehr geehrte Gäste,

 

für Ihre Einladung ins Evangelische Stift heute Abend danke ich Ihnen sehr herzlich. Sie haben mir damit eine große Freude bereitet. Wie Sie soeben erfahren haben, bin ich wie Sie ein Student der Theologie gewesen – und in einem bestimmten Sinne versuche ich noch heute einer zu sein. Wenigstens verstehe ich die Tätigkeit als Buchhändler von Anfang an auf meine Weise als „theologische Existenz“. In dieser Hinsicht fühle ich mich mit Ihnen verbunden und freue mich über das Zusammensein mit Ihnen. Im Anschluß an den Vortrag ist die Möglichkeit zu Rückfragen vorgesehen; und ich würde mir wünschen, dann mit Ihnen ins Gespräch zu kommen. Mein Vortrag hat vier Teile. Im 1. Teil will ich einiges zur klassischen Auffassung von Begriff, Struktur und Funktion des Buch-handels sagen. Im 2. Teil berichte ich von meinen persönlichen Erfahrungen als Buchhändler hier am Ort. Der 3. Teil behandelt die momentane Situation des Buchhandels. In allen Teilen will ich mich bemühen, immer wieder speziell auf die wissenschaftliche bzw. die theologische Literatur einzugehen. Beenden möchte ich meinen Vortrag im 4. Teil mit einigen Anmerkungen zur theologischen Bücherkunde und zu dem, was dem Leser zu tun übrig bleibt.

 

1. Zur klassischen Auffassung vom Begriff des Buchhandels

Die theologische Literatur stellt einen kleinen Ausschnitt der Literatur dar (deutlich unter 1% am Gesamtumsatz) und kann darum nicht isoliert betrachtet werden. Wenn ich heute Abend auf wesentliche Bedingungen der theologischen Literatur eingehe, wozu auch ökonomische Faktoren gehören, dann sehe ich meine Aufgabe zuerst darin, von den Bedingungen der Literatur überhaupt zu reden, und im Zusammenhang mit diesen Bedingungen kommt der Begriff des Buchhandels in den Blick. Es lohnt sich, zunächst den Begriff des Buchhandels näher zu betrachten. Was ist Buchhandel? Und: Wozu ist der Buchhandel notwendig, wozu ist er gut? Die elementare Antwort lautet: Der Buchhandel ist dazu da, die räumliche und zeitliche Distanz zwischen Autoren und Lesern durch den Transfer der Texte zu überwinden; daß also das, was die Autoren schreiben, auf dem Wege von Buchherstellung und Buchvertrieb der Öffentlichkeit zugänglich wird, d.h. von möglichst vielen anderen Personen gekauft und gelesen werden kann.

Alles, was zwischen dem Autor und dem Leser steht, ist der Buchhandel – und dieses Dazwischenstehen ist seinem Sinn und Zweck nach natürlich nicht Hindernis (was freilich vorkommen kann), sondern auch und vor allem eine Förderung. Was ist mit Buchhandel im einzelnen gemeint? Gewöhnlich versteht man unter dem Buchhandel ausschließlich die Buch-handlungen, also die Orte und Geschäfte, in denen Bücher zum Kauf angeboten werden. In der Buchhandelsbranche versteht man darunter aber mehr, nämlich insgesamt vier unterscheidbare Zweige, die organisatorisch im Börsenverein des Deutschen Buchhandels e.V. zusammengeschlossen sind: (1.) die schon erwähnten Buchhandlungen, die Einzelhändler, auch das Sortiment oder die Sortimentsbuchhandlungen genannt, gut 4000 zur Zeit in Deutschland. Sortiment bedeutet Auswahl; gemeint ist die Auswahl an Büchern, die eine Buchhandlung in ihren Geschäftsräumen für die Kunden vorrätig hält und zu zeigen vermag. Die Sortimentsbuch-handlungen gehören zum verbreitenden Buchhandel, zu dem man auch noch (2.) den Zwischenbuchhandel zählt: z.B. die Auslieferungen und die Barsortimente (wenn Sie in einer Buchhandlung ein Buch bestellen, das am nächsten Tag schon für Sie da ist, dann kommt es in der Regel vom Barsortiment). Zwischenbuchhändler gibt es in Deutschland momentan 79. Ferner gibt es (3.) die Antiquariate, die in den offiziellen Statistiken meist ganz weggelassen werden, weil es für diese Branche gar keine aussagekräftigen Zahlen gibt und weil ihr Anteil am gesamten Büchermarkt verschwindend gering ist (vermutlich unter 1% des Gesamtumsatzes mit Büchern). Die antiquarischen Buchhandlungen könnte man den bewahrenden Buchhandel nennen (Wendt/Gruber, 1). In Deutschland – so schätze ich – gibt es ungefähr 1200 bis 1500 professionelle Antiquariate (oft übrigens Geschäfte, die von nur 1 Person betrieben werden). Vom verbreitenden und bewahrenden Buchhandel unterscheidet man (4.) den herstellenden Buchhandel: das sind die Verlage. Die Zahl der Buchverlage liegt in Deutschland derzeit bei knapp 2000. Bemerkenswert ist der Sachverhalt, daß von der Antike bis ins 18. Jahrhundert hinein die verschiedenen Zwischenglieder zwischen Autor und Leser meistens in einer Hand vereint waren. Ob nun die Bücher in der Antike und im Mittelalter durch Abschreiben hergestellt wurden, oder seit Mitte des 15. Jahrhunderts durch den Druck, spielt in dieser Hinsicht eine sekundäre Rolle. Der Hersteller, der Verleger und der Buchhändler ist oft ein- und dieselbe Person. „Erst seit Mitte des 18. Jahrhunderts gehen Drucker, Verleger und Buchhändler getrennte Wege. Der reine Buchverlag ist eine Erscheinung der Moderne“ (Kerlen, Verlag, 4).

 

Nun noch einmal die Frage: Wozu ist der Buchhandel da?

Nehmen wir an, Sie schreiben eines Tages an einer theologischen Disserta-tion. Ist sie glücklich fertiggestellt und von der Fakultät angenommen worden, haben Sie zwei Möglichkeiten: Sie können die notwendige Anzahl der Pflichtexemplare im nächsten copy-shop herstellen lassen und im Dekanat abgeben – dann ist alles schon erledigt und Sie erhalten umgehend Ihre Promotionsurkunde. Oder aber Sie suchen einen Verlag für Ihre Arbeit und lassen sich auf einen weiteren mühevollen Weg ein: Wenn Sie einen Verlag gefunden haben (was auch mühsam sein kann), müssen Sie den Text noch einmal überarbeiten und druckfertig machen. Warum werden Sie sich dennoch dieser Mühe unterziehen? Nun: Sie erwarten von Verlag und Buchhandel eine professionelle Herstellung und einen professionellen Vertrieb ihres Buches. Das bedeutet im einzelnen: Sie erwarten (1.) Qualität. Qualität fängt beim Inhalt an, und von der Qualität Ihrer Arbeit sind Sie natürlich überzeugt. Jetzt hoffen Sie aber auch, daß andere diese Qualität erkennen und anerkennen. Von Ihrem Doktorvater, dem Zweitgutachter und der Fakultät haben Sie die wesentliche Anerkennung schon erhalten. Aber wenn Sie Ihre Arbeit veröffentlichen wollen, drückt sich Anerkennung nicht zuletzt dadurch aus, daß ein Verlag Ihre Dissertation auswählt, um sie in sein Programm aufzunehmen. Des weiteren bedeutet Qualität, daß die Form Ihrer Arbeit dem Inhalt angemessen ist, daß sie so fehlerfrei wie möglich ist und dem Standard wissenschaftlicher Editionen in jeder Beziehung entspricht. Es soll eben ein richtiges Buch sein, das in einem richtigen Verlag erscheint, der für die von Ihnen bearbeitete Thematik einschlägig bekannt ist und dabei für ein bestimmtes Qualitätsniveau sowie für eine ansprechende Gestaltung steht. Sie wünschen sich (2.) Aufmerksamkeit: daß Ihr Verlag mit seinem Namen für Ihr Buch einsteht, seine Veröffentlichung bekanntmacht, nicht zuletzt durch die Vergabe einer ISBN (International Standard Book Number) und durch einen Eintrag im VLB, dem Verzeichnis lieferbarer Bücher, daß der Verlag in angemessener Weise und an den richtigen Orten für das Buch wirbt. Und Sie wollen (3.) die Verbreitung: daß Ihre Arbeit über die Pflicht-exemplare für die Dissertations-Abteilung der Bibliotheken hinaus verbreitet wird. Ihr Buch soll publik werden und allenthalben greifbar sein. Vielleicht wünschen Sie sich, daß Ihre Arbeit bei Erscheinen im Novitäten-Fenster bestimmter Buchhandlungen steht. Sie freuen sich, wenn Ihr Verlag Rezensionsexemplare verschickt und Ihr Buch dann in den entsprechenden Fachorganen besprochen wird. Nicht unwichtig für die Verbreitung eines Buches ist, daß es vom Verlag für einen längeren Zeitraum lieferbar gehalten wird, d.h. im Idealfall, daß die Nachfrage solange Erfüllung finden kann, wie sie besteht. Kurzum: Sie wollen, daß Ihr Buch von allen möglichen Interessenten in Deutschland, aber auch in anderen Ländern, erworben und gelesen werden kann. All das unter Punkt 1-3 Gesagte kostet natürlich Geld. Darum erwarten Sie (4.) die Finanzierung ihres Buches. Ich weiß, dies ist gerade bei Qualifizierungsarbeiten ein heikler Punkt. Wenn Sie nicht selber das Buch nach den Vorgaben des Verlags satzfertig abgeben, wird man vielleicht von Ihnen erwarten, daß Sie sich an den Satzkosten beteiligen. Oder man wird Sie höflich bitten, Druckkostenzuschüsse herbeizuschaffen. Aber bedenken Sie bitte, daß ja auch die Herstellung von vielleicht 80 Kopien Ihrer Arbeit im copy-shop bei einer 500-Seiten-Arbeit einiges Geld kosten kann. Wenn Sie den Satz selber machen und ein wenig Glück haben, wird der Verlag für die komplette Finanzierung sorgen. Die Herstellung, der Druck und die Bindung müssen ja gleich am Anfang bezahlt werden, bevor noch ein einziges Buch verkauft ist. Und die gedruckten Exemplare des Buches, bei einer Dissertation vielleicht 300 Stück, müssen in einem Lager untergebracht werden – auch das verursacht Kosten genauso wie die Werbung und der Vertrieb. Alle diese Kosten trägt der Verlag mit seiner Finanzierung.

Als (5.) Punkt nenne ich Ihre Erwartung, daß durch den Verlag Ihre Urheberrechte gewahrt und gesichert werden. Das hängt mit dem (6.) und letzten Punkt zusammen: Sie wünschen sich ein Honorar, eine Entschädigung für Ihre Mühe bzw. eine Beteiligung an dem möglichen Gewinn. Nun, auch das ist bei einer Doktorarbeit ein heikler Punkt; die meisten Verlage gewähren für die Veröffentlichung einer Dissertation kein Honorar. Es gibt aber Ausnahmen von der Regel. Erwähnenswert ist, daß Sie u.U. durch eine Meldung Ihrer Veröffentlichung bei der Verwertungsgesellschaft Wort an den Ausschüttungen beteiligt werden. Die VG Wort ist ein Zusammenschluß von Autoren und Verlagen, der Tantiemen aus Zweitnutzungsrechten (z.B. Kopien von Studenten im copy-shop) einnimmt und weitergibt. Für manche ist das ein kleiner Trost. Und außerdem besteht ja Hoffnung: Wenn Sie im akademischen Bereich weiterarbeiten, werden Sie vielleicht eines Tages als Professor ein Lehrbuch veröffentlichen, das zu einem Standardwerk mit zahlreichen Folgeauflagen wird: Dann werden Sie in Gestalt von Honoraren gewiß auch in finanzieller Hinsicht Anerkennung erfahren. Dazu also ist der Buchhandel da: für Qualität, Aufmerksamkeit, Verbreitung und Finanzierung des Buches sowie für die Wahrung der Urheberrechte und wenn möglich für ein angemessenes Honorar zu sorgen.

Wesen und Struktur des Buchhandels wurden zu Beginn des 19. Jahr-hunderts von dem berühmten Buchhändler Friedrich Perthes auf klassische Weise beschrieben. Der Titel seiner 1816 anonym erschienenen Schrift lautet: „Der deutsche Buchhandel als Bedingung des Daseyns einer deutschen Literatur“. Darin heißt es: „§.2. Deutsche Literatur ist alles in Schrift Verfaßte und durch den Druck verbreitete, was in unserer Nation durch Nachdenken und Forschen zur Wissenschaft gebracht worden ist; Alles, was der Geist durch Anschauung und Phantasie entdeckt, bildet und aufstellt, durch Witz und Scharfsinn erfindet, vergleichet, erhellet, durch Beredsamkeit klar und lichtvoll darstellet. §.3. Um eine Literatur zu besitzen, bedarf es, insbesondere nach Lage und Verhältniß der Deutschen, folgende äußere Bedingungen: 1) Aufbringen der Kosten zum Druck der Schriften. 2) Entschädigung der Autoren für Bekanntmachung und Herausgabe ihrer Schriften. 3) eine Anstalt um über alle Länder, wo das Deutsche Muttersprache ist, die Druckschriften so zu verbreiten, daß allenthalben möglichst gleichartig lebhafter Antheil an Sprache, Wissenschaft und Literatur erregt und erhalten werde. §.4. Erfüllung dieser äußern Bedingungen einer Literatur gewährt: Der deutsche Buchhandel …“ (13f). [Gegen Ende dieser Schrift spricht Perthes noch zwei weitere Punkte an: zum einen das „Eigenthums-Recht der Autoren an ihren Schriften“ und zum anderen die „Ausbildung der Organisation des deutschen Buchhandels“ (44).]

Beachten Sie bitte, daß Perthes zur Literatur eben nicht nur die Belletristik rechnet, sondern alles in Schrift Verfaßte, und daß er als erstes Segment der Literatur die schriftlichen Erzeugnisse der Wissenschaft nennt. Perthes wäre also keineswegs mißverstanden, wenn wir den Titel seiner Schrift folgendermaßen auf unser Thema anwenden würden: Der Buchhandel als Bedingung des Daseins einer jeglichen und also auch einer theologischen Literatur. Auf dem Hintergrund dieser klassischen Bestimmung des Buchhandels ist es nicht schwer zu erklären, daß das Buch nicht bloß als Ware, sondern als Kulturgut betrachtet wird. Aus diesem Blickwinkel werden Verlage und Buchhandlungen dann auch weniger als Kaufhäuser, sondern als kulturell bedeutsame Orte verstanden, und Verleger wie Buchhändler werden nicht nur als Kaufleute angesehen: In der guten alten Zeit sind sie als gelehrte Vermittler von Geist und Kultur in Erscheinung getreten. Ein berühmtes Beispiel dafür ist der Tübinger Verleger und Buchhändler Johann Friedrich Cotta, dessen Stammhaus gleich neben der Stiftskirche steht (und in dessen Geschäftsräumen immer noch eine Buchhandlung zuhause ist). Cotta lebte von 1764 bis 1832; er verlegte u.a. die Werke von Goethe und Schiller, Uhland und Kleist, Hölderlin und Schelling. Sein Name lebt im Stuttgarter Verlag Klett-Cotta fort.

 

2. Als Buchhändler in Tübingen

Seit gut 10 Jahren bin ich hier am Ort als Buchhändler tätig, und zwar in der ganzen Bandbreite des Begriffs. In meinem kleinen Geschäft sind mit Ausnahme des Zwischenbuchhandels alle im 1. Kapitel beschriebenen Sparten des Buchhandels vereinigt, die sonst meistens getrennt begegnen: Antiquariat, Buchhandlung und Verlag. Begonnen habe ich im Januar 1996 als reiner Antiquar. Von Anfang an habe ich mich auf geisteswissenschaftliche, vor allem auf theologische und philosophische Bücher spezialisiert. Als Quereinsteiger wollte ich mich auf die Themen konzentrieren, in denen ich mich zuhause fühle; und genau das ist es, was mir an meinem Beruf Freude macht: denn mir geht es nicht nur um Bücher überhaupt, sondern auch um bestimmte Inhalte. In den ersten drei Jahren habe ich vier gedruckte Antiquariatskataloge erstellt – etwas, was ich heute wegen der Entwicklung des Internets in dieser Form nicht mehr mache. Der wichtigste Katalog erschien im März 1998 zum 500. Buchdruck-jubiläum in Tübingen mit 500 Büchern aus 500 Jahren Tübinger Druck- und Verlagsgeschichte. Darunter waren das erste in Tübingen gedruckte Buch – eine Inkunabel aus dem Jahr 1498 (Paulus Scriptoris – ein Theologe!) – , Reuchlins Augenspiegel, dessen Titelblatt zu meinem Firmenlogo wurde (heute auf jedem Lesezeichen, auf meinen Tüten, der Leuchttafel usw.), Nauklers Weltchronik, ferner in Tübingen gedruckte Erstausgaben von Goethe, Schiller, Kleist, Schelling, Hölderlin, Uhland, David Friedrich Strauß: also von den Anfängen bis zur neueren Zeit der Tübinger Buchproduktion. Das erste in Tübingen gedruckte Buch kaufte ein Tübinger Sammler, einen sehr interessanten Band mit Drucken aus der Zeit um 1600 hat die Tübinger Universitätsbibliothek erworben, sogar das Evangelische Stift hat sich mit einer Akquisition engagiert (Gottlob Christian Storr [1746-1805] über Kants philosophische Religionslehre 1794 – Sie haben also auch ein Buch aus meinem Katalog 4 in Ihrem Bibliotheksbestand), aber die meisten anderen Verkäufe gingen an Kunden außerhalb Tübingens, zum Teil auch ins Ausland.

1999 bin ich mit dem Ladengeschäft von der Hinteren Grabenstraße 47 in die Wilhelmstraße 8 umgezogen: Und erst dort habe ich mich richtig entfalten können. Dort bot sich mir nicht nur eine mehr als doppelt so große Verkaufsfläche wie bisher, sondern auch eine völlig andere Lauflage, die für ein Bücherangebot sehr gut geeignet ist. Das Jahr 1999 bedeutete in mehrfacher Hinsicht einen großen Einschnitt. Ich habe zu dieser Zeit vier Entscheidungen getroffen: 1. für den Aufbau einer Fachbuchhandlung mit meiner schon bestehenden Spezialisierung bei gleichzeitiger Weiterführung des Antiquariats; 2. für die Aufnahme des Modernen Antiquariats in mein Angebot; 3. für einen Einstieg in den Handel über das Internet; und 4. für ein verlegerisches Engagement. Zu allen vier Punkten möchte ich etwas sagen, zugespitzt auf die theologische Literatur.

 

Ad (1.): Fachbuchhandlung

Wenn man als Fachbuchhandlung u.a. wissenschaftlich-theologische Literatur führt, kommt man an der Tatsache nicht vorbei, daß diese Sparte in den letzten 10 bis 20 Jahren unter mindestens drei Entwicklungen leidet: (1.) ist die Zahl der Theologiestudenten drastisch zurückgegangen, (2.) haben die öffentlichen wissenschaftlichen Bibliotheken harte Einschnitte ihrer Etats für Neuerwerbungen hinnehmen müssen, und (3.) leidet die Sparte wie fast der gesamte Einzelhandel unter einer zunehmenden Konsumflaute. Diese Veränderungen haben die Buchhandels- und die Verlagslandschaft nicht unberührt gelassen. Welche Verlage mit einem wissenschaftlich-theologischen Programm wären zu nennen? Ohne Anspruch auf Vollständigkeit und Unfehlbarkeit möchte ich meine persönliche Einschätzung der Lage mitteilen: Die beiden Fachverlage mit dem strengsten und besten wissenschaftlich-theologischen Konzept sind heute Mohr-Siebeck und Walter de Gruyter. Sodann möchte ich deutlich konfessionell bzw. kirchlich aufgestellte (inhaltlich und ökonomisch) Verlage erwähnen: den Verlag der Evangelischen Verlagsanstalt Leipzig und den Neukirchener Verlag. Die Evangelische Verlagsanstalt Leipzig hat in den letzten Jahren durch eine kluge Verlagspolitik ihren Bereich mit wissenschaftlich-theologischer Literatur konsequent und attraktiv (auch im Blick auf die Bücher-Preise) ausgebaut. Ferner möchte ich als Verlage mit einem theologischen Programm aufzählen: Herder, Schöningh, Benzinger (Patmos), Vandenhoeck & Ruprecht, das Gütersloher Verlagshaus, Kohlhammer, Brunnen, Calwer, Lit-Verlag, Theologischer Verlag R. Brockhaus, Hartmut Spenner Waltrop und gewiß noch einige andere, meist kleinere Verlage. Zu nennen wäre auch noch utb (Universitäts-taschenbücher) als Verlagsgemeinschaft.

Doch die Sparte mit wissenschaftlich-theologischer Literatur ist in einigen dieser Verlage im Vergleich zum übrigen Programm recht schmal, und manches deutet darauf hin, daß diese Sparte dort in den nächsten Jahren noch schmaler werden wird. Das ist auch an renommierten Häusern wie dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht und dem Gütersloher Verlagshaus zu beobachten. Immerhin handelt es sich bei diesen beiden um Verlage, die über viele Jahrzehnte und noch vor 10 oder 15 Jahren unbedingt im vorderen Bereich hätten genannt werden müssen. Ob sie aber in der Zukunft noch in diesem Bereich bleiben werden, ist nicht sicher. Tatsächlich haben diese Verlage in den letzten 10 Jahren ihre theologisch-wissenschaftliche Sparte immer mehr ausgedünnt zugunsten der Orientierung an einem breiteren Publikumsinteresse. Wenn Sie sich ansehen, welche Neuerscheinungen dieser Verlage in den letzten Jahren auf den Markt gekommen sind, werden Sie unschwer feststellen, daß insbesondere die Bereiche Lebenshilfe und allgemeines religiöses Sachbuch stark zugenommen haben, während die Neuerscheinungen in der theo-logischen Wissenschaft zurückgegangen sind. Eine ähnliche Entwicklung ist übrigens auch in den Buchhandlungen zu beobachten, selbst in denen der Universitätsstädte. Wenigstens höre ich aus Theologie-Hochburgen wie Heidelberg und Marburg ähnlichlautende Nachrichten. In Tübingen versuche ich dem allgemeinen Trend entgegenzuwirken, und der Anklang, den ich nicht zuletzt bei Besuchern finde, zeugt davon, daß ein solcher Versuch selten geworden ist.

 

Ad (2.) Modernes Antiquariat

Ein unübersehbares Zeichen des Umbruchs war der zunehmende Umfang dessen, was man die Lagerbereinigung der Verlage auf dem Weg über das Moderne Antiquariat nennen könnte. Manche sprechen auch vom Ver-ramschen. Verramschen nennt man das Abstoßen eines nur noch schwer verkäuflichen Buches (bei utb unter 150 verkaufte Exemplare eines Buch-titels pro Jahr) zu einem wesentlich niedrigeren Preis als dem ursprünglichen Ladenpreis an das Moderne Antiquariat. Voraussetzung dafür ist, daß die Ladenpreise der betroffenen Buchtitel aufgehoben werden; sodann können sie zur Hälfte des früheren Preises oder noch günstiger angeboten werden. Lange Zeit haben sich Verlage, aber auch Buchhandlungen gescheut, Bücher über das Moderne Antiquariat zu vertreiben. Man fürchtete zum einen die Aushöhlung der Buchpreisbindung; zum anderen fürchtete man um den guten Ruf: Man wollte nicht als Ramschladen gelten bzw. in Erscheinung treten. Inzwischen sieht die Lage anders aus. Als ich vor gut 7 Jahren in der Wilhelmstraße anfing, habe ich mich so offen wie möglich mit diesem Phänomen auseinandergesetzt und mich dann dafür entschieden, das Moderne Antiquariat in meine Buchhandlung aufzunehmen. Ausschlag-gebend war aber vor allem der Grund, daß auch gute theologische und philosophische Fachbücher ins Moderne Antiquariat gelangten – das hatte es in früheren Zeiten in dieser Fülle nicht gegeben. An diesem qualitativ hochwertigen Angebot zu niedrigen Preisen konnte ich unmöglich mit Verachtung vorübergehen. Also habe ich mich auf den Standpunkt gestellt: Die Wirklichkeit, so wie sie ist, und die Verlagsentscheidungen, so wie sie getroffen werden, kann ich nicht ändern – ich kann nur die Gegebenheiten genau beobachten und das Beste für mein Geschäft und für meine Kunden daraus zu machen versuchen. Das entscheidende Kriterium ist natürlich auch in diesem Fall meine fachliche Ausrichtung. Als so manches gute Buch beim Verlag schon längst vergriffen gemeldet war, konnte ich es durch das Moderne Antiquariat für meine Kunden noch über einen längeren Zeitraum hinweg lieferbar halten, so z.B. die Anthropologie von Wolfhart Pannenberg oder das Standardwerk über die christologischen Hoheitstitel von Ferdinand Hahn. Insgesamt habe ich einen eigenen Standpunkt gewonnen, was das sog. Verramschen betrifft. Natürlich gibt es in der Fülle der Bücher auch viele schlechte und überflüssige Bücher, und wenn diese genau aus diesem Grund – weil sie schlecht oder überflüssig sind – nicht zum ursprünglichen Ladenpreis verkauft werden können, dann ist es angemessen, von Ramsch und Verramschen zu sprechen. Doch es gibt auch viele gute und sinnvolle Bücher, die sich ab einer bestimmten Menge von Exemplaren schwer zum Originalpreis verkaufen lassen – aus welchem Grund auch immer. Solche Bücher möchte ich nicht als Ramsch bezeichnen; ein gutes Buch wird nicht dadurch schlecht, daß seine Auflagenhöhe falsch kalkuliert wurde und sein Preis schließlich der Marktsituation angepaßt wird. Ein Buch ist nicht in jeder Hinsicht mit einer Aktie vergleichbar, die dadurch an Wert verliert, daß sie im Preis fällt. Wenn ein Buch ins Moderne Antiquariat kommt, ist dies doch letztlich für alle Beteiligten besser, als wenn das Buch wie Blei im Lager liegt oder gar makuliert wird. Der Autor freut sich, weil sein Buch nun doch wieder gekauft und gelesen wird, der Verlag freut sich, weil er die Lagerkosten los wird und doch noch etwas für die abgeschriebenen Bücher bekommt, der Buchhändler freut sich, weil er gute Bücher zu einem günstigen Preis anbieten kann, und schließlich freut sich auch der Kunde, weil er sich endlich ein Buch kaufen kann, das ihm bisher zu teuer war. In jedem Fall ist das Moderne Antiquariat ein Gradmesser für eine Über-produktion, die manchmal nicht zu vermeiden ist, die aber auf die Dauer bzw. ab einer bestimmten Größenordnung wirtschaftlich ungesund ist. Nach meinem Eindruck sind auf dem Feld der theologischen Fachverlage die schmerzhaftesten Lagerbereinigungen durchgeführt; insgesamt ist man in allen Häusern kräftig bemüht, sich auf die veränderte Situation einzustellen. Tröstlich finde ich, daß nicht alle Verlage mit einer Ausdünnung des theologischen Programms auf die Umsatzeinbrüche reagiert haben. Verlage wie Mohr Siebeck hier in Tübingen haben sich auf ihre Kernbereiche und ihre Stärken besonnen und diese konsequent weiter ausgebaut, etwa durch mehr Präsenz auf dem englischsprachigen Markt. Ein Verlag wie die Evangelische Verlagsanstalt Leipzig hat darüber hinaus gezeigt, daß man auch unter den heutigen Umständen erfolgreich ein Pro-gramm auf dem wissenschaftlichen Feld aufbauen kann.

 

Ad (3.) Buchhandel über das Internet

Die Vertriebsform über das Internet hat für Bücher die größten Steigerungsraten, allerdings hauptsächlich bei den großen Internet-Plattformen. Im Jahr 1999 wurden mit Büchern 84 Millionen Euro über das Internet umgesetzt, 2002 waren es 438 Millionen und 2005 633 Millionen Euro (geschätzt). Auch ich habe mich von Anfang an dafür entschieden, im Internet präsent zu sein. Über meine homepage kann man auch im VLB recherchieren und neue Bücher online bestellen. Außerdem biete ich meine antiquarischen Bücher über das Internet an. Seit dem Herbst 1999 bin ich Mitglied im zvab (im Zentralen Verzeichnis antiquarischer Bücher) – die meisten von Ihnen werden es kennen und gerne nutzen. Im Grunde ist das Internet mit seiner weltweiten Vernetzung und Recherchemöglichkeit das ideale Medium für den Handel mit dem antiquarischen Buch. Stellen Sie sich vor: Sie betreten ein Antiquariat mit über 10 Millionen Büchern; und in Sekundenschnelle können Sie diesen unvorstellbaren Buchbestand durchsuchen und feststellen, ob Ihr gesuchtes Buch angeboten wird oder nicht. Auf diese Weise können Sie die Nadel im Heuhaufen nicht nur erstaunlich leicht finden, sondern Sie können oft auch noch unter verschiedenen Angeboten auswählen. In den letzten 10 Jahren hat das Internet zu einer tiefgreifenden Umstrukturierung des Antiquariatsbuchhandels geführt. Einige der Konsequenzen sind: (a.) viele Kollegen mußten ihren Laden schließen und sich ins Versandgeschäft über das Internet zurückziehen; denn das leibhaftige Stöbern in den Anti-quariatsläden verlor massiv an Attraktivität zugunsten des Suchens im online-Angebot (was durch Suchbegriffe wie Autorennamen und Buchtitel sekundenschnell erfolgt); (b.) es gibt zwar noch Antiquare, die Kataloge drucken lassen und an ihre Kunden versenden, aber die meisten bieten Bücher nur noch über den digitalen Katalog im Internet an (so auch ich); (c.) eine große Transparenz und Konkurrenz. Recht besehen hat der Internethandel aber sowohl für Käufer als auch für Verkäufer große Vorteile – Voraussetzung ist natürlich, daß man sich auf die neue Situation eingestellt hat und die Vorteile zu nutzen versteht.

 

Ad (4.): Verlag

1999 bin ich auch verlegerisch tätig geworden. Es handelt sich um einen Nachdruck, einen Reprint. Bei einem Reprint geht es darum, einen bereits früher gedruckten Text, der seit längerem nicht mehr erhältlich ist, in unveränderter Gestalt noch einmal herauszubringen. Das klingt zunächst nicht sehr aufregend. Dennoch empfand ich es als spannend; und dazu könnte ich eine lange Geschichte erzählen. Hier nur kurz folgendes: Durch meine antiquarische Tätigkeit hatte ich festgestellt, daß die 6-bändige, von Josef Nadler 1949-1957 herausgegebene historisch-kritische Gesamtaus-gabe der Werke Johann Georg Hamanns sehr gesucht war und im Anti-quariat zu hohen Preisen zwischen 600 und 1200 DM gehandelt wurde. Hamann, der übrigens seinerseits ein leidenschaftlicher Büchermensch war, ist sowohl für Theologen als auch für Philosophen und Germanisten von Interesse – und darum paßte er auch optimal zur inhaltlichen Ausrichtung meines Geschäfts. Angeregt durch den Rat eines guten Freundes und mit Unterstützung eines befreundeten Verlegers kam der Reprint zu einem günstigen Preis und mit einer Gesamtauflage von 800 Exemplaren zustande. Kurz nach Erscheinen brachten die Frankfurter Allgemeine Zeitung und DIE ZEIT Rezensionen, so daß es zu zahlreichen Bestellungen aus aller Welt kam und das Unternehmen schnell zu einem wirtschaftlichen Erfolg wurde. Das Verhältnis von Angebot und Nachfrage war in diesem Fall stimmig. Es war schön zu erleben, daß nicht nur viele Kunden die Hamann-Ausgabe bestellten, sondern daß etliche auch ihre große Freude über den Reprint zum Ausdruck brachten.

 

3. Gegenwärtige Lage und Zukunftsaussichten des Buchhandels

Im vorangegangenen Teil, als ich von meinen persönlichen Erfahrungen berichtet habe, bin ich bereits auf die gegenwärtige Lage des Buchhandels eingegangen, insbesondere auch auf den Handel mit theologischer Literatur. Nun möchte ich noch einmal den Blick weiten und auf die gegenwärtigen Bedingungen des Buchhandels im Allgemeinen eingehen, wobei auch aktuelle Probleme und die Zukunftsaussichten ins Auge gefaßt werden sollen. Versuchen wir in wenigen Stichworten eine gegenwärtige Bestandsaufnahme des deutschen Buchhandels im Jahr 2005. Bei rund 800.000 Titeln sind 2005 89.869 Neuerscheinungen (Erstauflagen und Neuauflagen) auf den Markt gekommen – ein neuer Rekord. Der gesamte Jahresumsatz des deutschen Buchhandels betrug 9,159 Milliarden Euro. Zum Vergleich der Größenordnung: das ist noch nicht einmal die Hälfte dessen, was die deutschen Filialen von Aldi im Jahr umsetzen. Gut die Hälfte davon, 54,8 %, macht der Sortimentsbuchhandel aus; daran sehen Sie, daß die Buchhandlungen nicht den einzigen Vertriebsweg für Bücher darstellen. Einen erheblichen Teil des Gesamtumsatzes, nämlich 17,6 %, erzielen die Verlage durch den direkten Vertrieb an Letztabnehmer. 11,2 % der Bücher laufen derzeit über den Versandhandel (darin auch vor allem: über das Internet), 4,3 % über Warenhäuser, 3,2 % über Buchgemeinschaften, 8,9 % über sonstige Verkaufsstellen – denken Sie dabei z.B. an Ratgeber im Baumarkt, Reiseführer an der Tankstelle, Kochbücher im Haushaltsgeschäft, Gesundheitsbücher in der Drogerie und „Harry-Potter“-Bücher in Supermärkten. Betrachtet man die Anteile der Warengruppen am Gesamtumsatz der Buchbranche, dann entfallen 7,7 % auf naturwissenschaftliche und 7,4 % auf geistes- und sozialwissenschaftliche Fachbücher. Für den Bereich Religion wird eine Zahl von 4,5% genannt. Für die theologisch-wissenschaftlichen Bücher gibt es keine Zahlen und Schätzungen; wir müssen eine Größenordnung von deutlich unter 1 % annehmen.

Unter der Voraussetzung, daß das Buch als Kulturgut einen hohen Rang einnimmt, sind die in Deutschland geltenden gesetzlichen Bestimmungen zu würdigen, welche zu den besonderen Rahmenbedingungen des deutschen Buchhandels gehören. Das beginnt mit dem Grundgesetz und der in Artikel 5 verankerten Meinungs-, Informations- und Pressefreiheit sowie der Freiheit in Kunst und Wissenschaft. „Eine Zensur findet nicht statt“. Ich möchte einige andere Punkte nennen, die auch ökonomisch relevant sind. Was Sie alle kennen, ist die „Büchersendung“ bei der Post, die bei einem Gewicht bis 1 kg günstiger ist als andere Versandformen. Ferner denke ich dabei an den reduzierten Mehrwertsteuersatz, der z.B. für die meisten Nahrungsmittel, aber auch zur Förderung und Wahrung des Kulturgutes Buch gilt. Im Herbst 2005, als es um die von der großen Koalition geplante Mehrwertsteuererhöhung ging, stand diese Regelung auf der Kippe. Inzwischen ist klar: Auch nach dem 1.1.2007 werden Bücher nur mit 7 % belastet. Des weiteren ist als ökonomische Besonderheit des deutschen Buchhandels die Buchpreisbindung zu erwähnen. Die Preisbindung für Bücher war noch zu der Zeit meiner ersten Jahre als Buchhändler eine vertraglich festgelegte, brancheninterne Regelung. Das konnte wegen rechtlicher Bedenken, die nicht zuletzt auf europäischer Ebene bestanden, nicht so bleiben. So kam es zum „Gesetz über die Preisbindung für Bücher“, das am 1.10.2002 in Kraft trat. Damit ist die Buchbranche der einzige wirtschaftliche Sektor in Deutschland, für den eine Preisbindung gesetzlich vorgeschrieben ist. Der Gesetzgeber hat wohl die Notwendigkeit gespürt, gleich im §1 des Buchpreisbindungsgesetzes den „Zweck des Gesetzes“ zu bestimmen: „Das Gesetz dient dem Schutz des Kulturgutes Buch. Die Festsetzung verbindlicher Preise beim Verkauf an Letztabnehmer sichert den Erhalt eines breiten Buchangebots. Das Gesetz gewährleistet zugleich, daß dieses Angebot für eine breite Öffentlichkeit zugänglich ist, indem es die Existenz einer großen Zahl von Verkaufsstellen fördert“ (BuchPrG §1).

Hier begegnen wir erneut dem Stichwort: das Buch als Kulturgut. Und wir begegnen zwei der wichtigsten Argumente, die für die Buchpreisbindung ins Feld geführt werden. Beide Argumente beziehen ihre Überzeugungskraft aus den Konsequenzen, die als Folge freier Buchpreise zu befürchten sind: Erstens würde die Zahl der Buchhandlungen in Deutschland erheblich zurückgehen. Insbesondere die kleinen und mittleren Buchhandlungen wären akut gefährdet. Schon jetzt wachsen nur die großen Buchkaufhäuser wie Thalia und Weltbild in einem nennenswerten Umfang, vor allem durch Übernahme von bestehenden Buchhandlungen und durch Neugründung von Filialen (Thalia bald auch in Reutlingen). Zweitens würde die derzeitige Titelvielfalt der Verlage spürbar zurückgehen, da die Quersubventionierung von besonders gut und weniger gut laufenden Titeln immer schwieriger würde. Auch wenn die Verlage nicht so sehr in ihrer Existenz bedroht wären wie die vielen klei-nen und mittleren Buchhandlungen, so müßten auch sie sich erheblich um-stellen und sehr viel vorsichtiger agieren. „Books are different“ – dieser Leitsatz eines englischen Gerichtsurteils (Lucius, 15) begründet anscheinend auch einen kraft Gesetzgebung gesicherten ökonomischen Sonderstatus. Wenn Sie mich nach meiner Einstellung dazu fragen, so muß ich vorneweg sagen: Ich bin kein Gegner der Buchpreisbindung. Und doch bin ich skeptisch, was die weitere Entwicklung angeht. Wie wir im Herbst 2005 schon im Blick auf den reduzierten Mehrwertsteuersatz ein Schwanken in der politischen Meinung feststellen mußten, ist das Bewußt-sein vom Buch als Kulturgut, das des Schutzes und der Förderung bedarf, im Schwinden begriffen. Und das betrifft längst nicht mehr nur die nationale und europäische Politik und Bürokratie. Auch das Kaufverhalten der Kunden hat sich gewandelt. Die Zahl der „Bücherwürmer“ und „Kulturbeflissenen“ unter den Käufern geht zurück, das Buch wird zu einem Artikel unter vielen. Andere Medien wie Audio-CDs, CD-ROMs und DVDs unterliegen nicht der Preisbindung; außerdem werden sie mit 16, bald mit 19 % besteuert. Und auch unter den Buchhändlern und Verlegern selbst greift allen anderslautenden Sonntagsreden zum Trotz eine Mentalität immer mehr um sich, die das Buch nur noch als Ware sieht. Ich möchte an dieser Stelle keine Namen nennen. Aber ich möchte doch betonen, daß der deutsche Buchhandel selbst kräftig an dem Ast sägt, auf dem er sitzt. Wenn die Buchpreisbindung nicht durch politische Vorgaben fällt, z.B. durch europäische Vereinheitlichungen und Bereinigungen des Marktes, wird sie vermutlich bald schon von innen ausgehöhlt sein und in sich zusammenstürzen: und zwar genau durch die Branche, auf deren Betreiben das Gesetz einst zustande kam.

Nun droht aber seit neuestem noch von ganz anderer Seite Ungemach für die wissenschaftlichen, auch die theologischen Fachverlage. Ich meine die dramatischen Veränderungen, die in den letzten 3 Jahren auf dem Feld des Urheberrechts stattgefunden haben und gerade dabei sind, weiter um sich zu greifen. Speziell Universitätsverlagen macht das neu gefaßte Urheberrecht in den §§ 52a und 53 zu schaffen. Demnach dürfen Bibliotheken Teile von Druckerzeugnissen (also von Büchern und Zeitschriften) digitalisieren und einem geschlossenen Nutzerkreis (Intranet) zur Verfügung stellen. Die meisten der knapp 200 wissenschaftlichen Verlage in Deutschland sehen ihre Zeitschriften und speziellen Monographien sowie Enzyklopädien hochgradig gefährdet. Dr. Georg Siebeck, der Inhaber des hier in Tübingen ansässigen Wissenschaftsverlags Mohr-Siebeck, warnt bereits seit mehreren Jahren vor den hier lauernden Gefahren und setzt sich für eine Novellierung des Urheberrechts ein, die die Enteignung der Autoren und Verleger verhindern soll. Wenn Sie auf diesem Gebiet Informationen aus erster Hand haben und ein kompetentes Urteil hören wollen, rate ich Ihnen, Herrn Dr. Siebeck ebenfalls einmal ins Stift einzuladen.

Zur Zeit laufen einige Musterprozesse zum Urheberrecht. Einer davon betrifft die Volltextsuche im Internet. Sie haben vermutlich schon davon gehört: In den USA scannt Google seit einiger Zeit auch Werke von deutschen Verlagen – und zwar ohne Genehmigung –, um sie dann in Form von Ausschnitten im Internet zugänglich zu machen. Während sich Google auf die Besonderheiten des amerikanischen Urheberrechts beruft, ist die Digitalisierung aus Sicht europäischer Verlage ein klarer Verstoß gegen das Urheberrecht. Die Wissenschaftliche Buchgesellschaft hatte deshalb mit Unterstützung des Börsenvereins eine einstweilige Verfügung gegen Google vor dem Hamburger Landgericht beantragt. Vor wenigen Wochen mußte die Wissenschaftliche Buchgesellschaft ihren Antrag zurückziehen, weil keine Aussicht auf Erfolg bestand. Dieser Fall war selbst der Tagesschau eine Nachricht wert; ein breites Presseecho folgte. „Frisst Google Kulturgut?“, fragte kürzlich „DIE ZEIT“. In der „Weltwoche“ wurde Anfang Juli ein Artikel des amerikanischen Zukunftsforschers Kevin Kelly aus dem „New York Times Magazine“ abgedruckt. Titel: „Und alle Bücher werden eins“. Darin beschreibt er als Vision den Traum einer digitalen Weltbibliothek aller Zeiten und Kulturen – ein Traum, der an der in der Antike für ihre Bücherschätze berühmten Bibliothek von Alexandrien anknüpft. In einigen Ländern, vor allem in den USA und in China, werden ohne Rücksicht auf das Urheberrecht täglich tausende von Büchern gescannt und digital verarbeitet. Die digitale Universalbibliothek soll in nicht allzu ferner Zukunft allen Menschen an allen Orten und zu jeder Zeit zur Verfügung stehen. „Open access“ lautet dabei die Devise. Alle Informationen sollen frei und kostenlos zugänglich gemacht werden.

Daß eine Novellierung des Urheberrechts dringend nötig ist, wird allent-halben anerkannt. Im Streit um das Urheberrecht spiegelt sich ein grund-legender Umbruch im wissenschaftlichen Publizieren wider: „Die traditionelle Arbeitsteilung zwischen Wissenschaftlern [Autoren], Verlagen und Bibliotheken ist im Zeitalter des Internet kräftig durcheinander geraten. … Das wissenschaftliche Publikationswesen ist also mächtig in Bewegung gekommen, doch wohin die Reise geht, weiß niemand. Die Wissenschaftsverlage eint die Angst, ihnen könnte ein ähnliches Schicksal bevorstehen wie der Musikindustrie: Jugendliche, die Musikstücke über das Internet tauschen können, kaufen weniger CDs – Forscher, die über das Internet Fachartikel verbreiten, brauchen weniger Zeitschriften. Das hätte zur Folge, daß die Bibliotheken Abos abbestellen und am Ende die kleinen Verleger Pleite gehen“. Die Zahl der betroffenen Verlage liegt je nach Schätzung zwischen 130 und 190; die meisten verdienen ihr Geld mit Kleinstauflagen von Dissertationen oder hoch spezialisierten Zeitschriften (Max Rauner: Bleiben die Regale künftig leer?, in: DIE ZEIT 10.4.2003, Nr. 16).

Muß man im Zusammenhang mit der oben beschriebenen Situation im Verlagswesen und auf dem Büchermarkt eine zunehmende Ökonomisierung der Wissenschaft befürchten? Das ist eine hochkomplexe Frage, die nicht so einfach zu beantworten ist. Aber ich möchte die Frage heute Abend dennoch einfach beantworten: nämlich mit einem klaren Nein. Nein, vom Verlagswesen und vom Buchhandel ist keine Ökonomisierung der Wissenschaft zu befürchten. Die Symbiose von Wissenschaft, Verlagswesen und Buchhandel ist in Jahrhunderten gewachsen und ist zum allseitigen Nutzen ausgewogen. Sie wird auch bestehen bleiben, solange es Bücher gibt. Im (1.) Teil habe ich Ihnen ja zeigen wollen, in welcher Weise Buchhandel und Verlagswesen die Literatur fördern und auch und gerade für die wissenschaftliche Literatur unentbehrlich sind. Klar ist auch, daß Bücher machen und mit Büchern handeln Geld kostet – und daß damit Geld verdient werden muß, damit eine solche Tätigkeit attraktiv bleibt. Kaum einer wird Bücher verlegen und mit Büchern handeln wollen, wenn sich dies nicht mehr wirtschaftlich rechnet. Also besteht jetzt die Aufgabe, die Rahmenbedingungen für wirtschaftliches Verlegen nicht durch Gesetzesänderungen außer Kraft zu setzen, sondern im Verhältnis zu den digitalen Techniken ein neues Gleichgewicht zu schaffen. Die Situation heute erinnert an die Zeit, als der Buchdruck noch in der Wiege lag (Inkunabel bedeutet Wiegendruck) und die sog. „Raubdrucke“ an der Tagesordnung waren. Es hat lange gedauert, bis das Urheberrecht eine Selbstverständlichkeit war. Heute reden die Verlage von Diebstahl, wenn es um das Digitalisieren ohne Genehmigung und ohne angemessene Vergütung geht. Die Verlage wären mißverstanden, wenn man ihnen unterstellen würde, sie verschlössen sich dem neu angebrochenen Zeitalter der Digitalisierung. Längst haben die meisten sich darauf eingestellt. Aber sie wollen eben im eigenen Interesse und im Interesse ihrer Autoren sowie im Interesse an professionell gemachten Büchern verhindern, daß ihnen ihre eigenen Produkte entrissen und in digitales Freiwild verwandelt werden. Wir dürfen alle gespannt sein, wie die Geschichte weitergeht.

 

4. Theologische Bücherkunde und eigene Lektüre

Sie kennen vermutlich Friedrich Schleiermachers „Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen“ (1810, 21830). In der Einleitung kommt Schleiermacher u.a. auch auf Fragen der theologischen Enzyklopädie zu sprechen und erwähnt in diesem Zusammenhang „die theologische Bücherkunde“ (Kritische Ausgabe herausgegeben von Heinrich Scholz, Darmstadt 41977 = Leipzig 31910, § 18, 7). Im theologischen Studium ist nicht zuletzt die „Bekanntschaft mit den Hilfsmitteln“ unerläßlich – und zu diesen Hilfsmitteln zählen auch heute noch in hervorragender Weise die Bücher. Und wie könnte es anders sein, gehören doch die Christen wie die Juden und die Muslime zu den „Leuten des Buchs“ (wie die Bezeichnung im Koran lautet), und bezieht sich auch die christliche Theologie in allen ihren Disziplinen auf die Bibel. Die Bibel selbst stellt eine ganze Bibliothek von Büchern und Schriften dar, die in einem Zeitraum von über 1000 Jahren entstanden sind. Im Buch Kohelet lesen wir „Des vielen Büchermachens ist kein Ende“ (12,12). Ist es nicht erstaunlich, daß wir diesen alten biblischen Satz auch heute noch in unserer modernen Kultur unmittelbar zu verstehen meinen? Vermutlich ist die Erfahrung, daß des „vielen Büchermachens kein Ende“ ist, so alt wie die Buchkultur überhaupt und wird uns begleiten, solange eine Buchkultur besteht. Dem Wortlaut nach handelt es sich zunächst um eine nüchterne Feststellung, mit der ein kaum bestreitbarer Sachverhalt ausgesprochen wird – ähnlich wie in der unmittelbar darauf folgenden Feststellung, daß viel Studieren den Leib ermüdet (Vers 12c). Dem Kontext nach handelt es sich um eine Warnung an den Schüler der weisheitlichen Tradition, der mit „mein Sohn“ angesprochen wird. „Und überdies, mein Sohn, laß dich von ihnen [den Weisen] warnen“ (Vers 12a). „Des vielen Büchermachens ist kein Ende!“ Was ursprünglich primär eine Warnung war, mag heute so manchem engagierten Verleger, Buchhändler und Bücherfreund wie eine Verheißung klingen. „Des vielen Büchermachens ist kein Ende!“ An der Geschichte der Bibel ist abzulesen: Im Laufe der Zeiten haben sich die Materialien der Vervielfältigung und der Buchformen gewandelt, und trotz aller Wandlungen ist der biblische Text ohne Unterbrechung bis zu uns heute weitertradiert worden. Das wird gewiß auch in der Zukunft der Fall sein. Die 10 Gebote, so sagt die Überlieferung, wurden von Gott selbst auf Steintafeln niedergeschrieben. Geschrieben wurde in der Antike auf Stein- und Tontafeln, auf Papyrus und Pergament, später auf Papier. Als Buchformen können wir die Buch-Rolle nennen, in christlicher Zeit kam der Kodex hinzu, die Vorform des Buches, wie wir es heute kennen. Als Gutenberg in der Mitte des 15. Jahrhunderts den Buchdruck mit beweglichen Lettern erfand, druckte er als erstes Buch die Bibel. Die Bibel ist auch eines der ersten Bücher gewesen, das digitalisiert wurde und auf diese Weise mit früher ungeahnten Möglichkeiten zur Verfügung steht: in den Ursprachen, in zahlreichen deutschen und fremdsprachigen Übersetz-ungen, und dazu noch mit allen gewünschten Hilfsmitteln wie Wörterbücher und Lexika. Und Sie können sich natürlich auch die ganze Bibel vorlesen lassen: Sie brauchen dazu heute nur noch einige wenige Audio-Mp3-Discs. Daran wie das Buch der Bücher auch in digitaler Gestalt sein Zukunftspotential entfaltet, ist ablesbar, wie eine einzige Weltbibliothek aller Bücher in nicht ferner Zukunft existieren könnte. Der eigentliche Clou dabei ist nicht nur die digitale Gestalt überhaupt, sondern die ungeahnten Möglichkeiten der Verbindungen: der Vernetzung, der links und tags. So wie innerhalb kürzester Zeit im Internet eine Online-Enzyklopädie aufgebaut wurde (Wikipedia), ist es ja z.B. denkbar, einen Online-Kommentar zur Bibel zu schreiben, an dem jeder mitschreiben und den jeder nutzen kann – und wer weiß, vielleicht bin ich noch nicht informiert und es wird schon daran gearbeitet? Doch zurück zu Schleiermacher.

Wenn Schleiermacher von der theologischen Bücherkunde spricht, so hat er gewiß diejenigen Aspekte der Bücherkunde vor Augen, die Ihnen allen aus Ihrem Studium bereits bekannt sind und die ich darum auch als bekannt voraussetzen darf. Ich denke dabei zum Beispiel an bibliographische Grundkenntnisse, an die Frage: Wie suche und finde ich Literatur zu meinem Thema? Oder auch: Nach welchen Kriterien bestimme ich meine Lektüre? Wie kann ich einen sinnvollen Lektüre-Plan in meinem Studium entwickeln und befolgen? Oder wenn mir ein gewisser Etat für Bücher zur Verfügung steht: Wie baue ich mir zu Studienzwecken eine eigene Handbibliothek auf? Will ich dabei auf gedruckte Bücher setzen? Wenn Sie diese Frage bejahen, stehen Sie vielleicht selbst mit ihrer theologischen Literatur-Wunschliste im Spannungsfeld von Wissenschaft und Ökonomie, was nämlich die Privat-Ökonomie des eigenen Geldbeutels betrifft. Zu all dem könnte ich Ihnen etwas sagen, aber ich muß mich beschränken und möchte Sie darum an dieser Stelle nur ermutigen, die Zeit des Studiums auch als eine großartige Möglichkeit zum Eindringen in die Welt der Bücher und zur persönlichen Lektüre anzusehen. Denn ob der Text auf Papier gedruckt ist oder auf einem Bildschirm erscheint – die eigene Lektüre ist so unersetzbar wie das eigene Denken. Eine Zukunft, in der die digitalen Texte gleich per Kabel oder irgendwelche Sender in unser Hirn eingespeist werden, wollen wir uns erst gar nicht vorstellen. Also: Mag der Träger des Textes variieren (in der Antike war es Papyrus, im Mittelalter Pergament, später Papier, in Zukunft neben dem Papier, das erhalten bleiben wird, verstärkt elektronische Datenträger) – das Lesen, das Aufsuchen und Auswählen, was man lesen will, bleibt im wesentlichen gleich.

Ich möchte Ihnen also zurufen, was einst Augustinus zu hören meinte: Tolle, lege! Nimm und lies! Lesen Sie mit soviel Interesse, Schwung und Enthusiasmus wie nur irgend möglich! Wenn alles gut geht, entwickeln Sie die Gewohnheit, immer ein Buch zur Hand zu haben, und Sie werden von dieser guten Gewohnheit auch später nicht mehr lassen wollen, wenn Sie einmal durch Ihren Beruf in Anspruch genommen sind und Ihr Terminkalender keine Mußestunden zur Lektüre vorzusehen scheint. Nimm und lies! Der Buchhändler ist versucht hinzuzufügen: Nimm und lies – ich halte viele Bücher für Dich bereit. In Zukunft bedeutet „Nimm und lies“ vermutlich zunehmend die Online-Recherche im Internet oder die Benutzung eines i-pods, auf dessen harddisk vielleicht eines Tages eine ganze theologische Bibliothek gespeichert sein wird. Denken Sie ruhig hin und wieder darüber nach, in welcher Form Sie lesen wollen, welche Medien für Sie infrage kommen. Denn wie die Zukunft der Bücher jenseits aller Spekulationen wirklich aussehen wird, werden Sie als Nutzer, als Kunde und als Leser entscheidend mitbestimmen. Welche Nutzungsgewohnheiten werden Sie entwickeln und bevorzugen, wofür werden Sie bereit sein wieviel zu bezahlen, welche Form des Umgangs mit Texten wird Ihnen auf die Dauer Freude machen? Diese Fragen kann ich nicht für Sie beantworten; ich will Ihnen aber einen Rat mitgeben, den Martin Luther in seiner Schrift „An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung“ (1520) so formuliert hat: „viele Bücher machen nicht gelehrt, vieles Lesen auch nicht, sondern gute Bücher und diese oft lesen, wie wenig es auch sind, das macht gelehrt in der Schrift und fromm dazu“ (Martin Luther, Von christlicher Freiheit. Schriften zur Reformation, Übertragen und kommentiert von Horst Beintker, Zürich 1990, 357 = WA 6, 461). Oder in abgewandelter Form an anderer Stelle, in der Vorrede zum I. Band der deutschen Schriften (1539), an der Luther drei Dinge nennt, die im Blick auf das Theologiestudium unverzichtbar sind: Gebet, Meditation und Anfechtung – zur Meditation: „Zum zweiten sollst du meditieren, das ist: nicht allein im Herzen, sondern auch äußerlich die mündliche Rede und die Worte im Buch dem Buchstaben nach immer wiederholen, lesen und noch einmal lesen, mit fleißigem Aufmerken und Nachdenken, was der Heilige Geist damit meint. Und hüte dich, daß du dessen nicht überdrüssig werdest, oder denkest, du habest es mit einem oder zwei Mal genug gelesen, gehört, gesagt, und verständest es alles von Grund auf. Denn da wird nimmermehr ein besonderer Theologe daraus, sie sind wie das unreife Obst, das abfällt, ehe es halb reif wird“ (Luther Deutsch, Die Werke Martin Luthers in neuer Auswahl für die Gegenwart herausgegeben von Kurt Aland, Band 1: Die Anfänge, Stuttgart und Göttingen 1969, 16 = WA 50, 659).

Schließen möchte ich mit einer Geschichte aus der Antike, die Diogenes Laertius erzählt. In dieser kleinen Geschichte wird deutlich, was eine Buchhandlung im besten Fall sein kann. Berichtet wird von Zenon von Kition (einer griechischen Kolonie auf Zypern), der Schüler des Krates war und in der Philosophiegeschichte zu den Begründern der Stoa zählt (um 300 v.Chr.): „Dem Krates war er [Zenon] auf folgende Art nahegetreten: Er hatte in Phönizien Purpur eingekauft und litt damit nahe an Peiraieus [Hafen von Athen] Schiffbruch. Da ging er nach Athen hinauf und ließ sich – bereits dreißig Jahre alt – bei einem Buchhändler nieder, der gerade das zweite Buch der Xenophontischen Denk-würdigkeiten las; freudig überrascht erkundigte er sich, wo Männer dieser Art zu finden seien. Ein glücklicher Zufall wollte es, daß gerade Krates vorüberging; der Buchhändler wies auf ihn hin und sagte: ‚Diesem schließe dich an’. Von da an war er Hörer des Krates, im übrigen ein energisch strebsamer Jünger der Philosophie“ (Diogenes Laertius, Leben und Meinungen berühmter Philosophen, VII/1/2-3, Hamburg 21967, Band 2, 8).

Ich danke Ihnen für Ihre Geduld und Ihre Aufmerksamkeit.

 

Literaturhinweise:

Luciano Canfora, Die verschwundene Bibliothek. Das Wissen der Welt und der Brand von Alexandria, Hamburg 2002

Sabine Cronau, Korb voller Probleme [zum Urheberrecht], in: Börsenblatt. Wochenmagazin für den Deutschen Buchhandel 173. Jahrgang 29. Juni 2006 Heft 26, 20-25

Sabine Cronau, Am Puls der Branche. Buch und Buchhandel in Zahlen [2005], in: Börsenblatt. Wochenmagazin für den Deutschen Buchhandel 173. Jahrgang 13. Juli 2006 Heft 28, 39-50

Diogenes Laertius, Leben und Meinungen berühmter Philosophen, Hamburg 21967

Umberto Eco, Das Foucaultsche Pendel, München und Wien 1989, Kapitel 38-39, 281-294

Wolfgang E. Heinold / Ulrich Spiller: Der Buchhandel in der Informations-gesellschaft, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B12-13/2004, 30-38

Helmut Hiller / Stephan Füssel, Wörterbuch des Buches, Sechste grundlegend überarbeitete Auflage, Frankfurt am Main 2002

Jean-Noel Jeanneney, Googles Herausforderung. Für eine europäische Bibliothek, Berlin 2006

Kevin Kelly, Und alle Bücher werden eins, in: Die Weltwoche 74. Jahrgang 6. Juli 2006 Nummer 27, 48-55 [original in: The New York Times Magazine]

Dietrich Kerlen, Der Verlag. Lehrbuch der Buchverlagswirtschaft, Stuttgart 2005

Martin Kersting, Alte Bücher sammeln. Ein praktischer Leitfaden durch die Buchgeschichte und die Welt der Antiquare, 2. neubearbeitete und erweiterte Auflage, München 2001

Wulf D. von Lucius, Verlagswirtschaft. Ökonomische, rechtliche und organisa-torische Grundlagen, Konstanz 2005

Martin Luther (Luther Deutsch), Die Werke Martin Luthers in neuer Auswahl für die Gegenwart herausgegeben von Kurt Aland, Band 1: Die Anfänge, Stuttgart und Göttingen 1969

Martin Luther, Von christlicher Freiheit. Schriften zur Reformation, Übertragen und kommentiert von Horst Beintker, Zürich 1990

[Friedrich Perthes,] Der deutsche Buchhandel als Bedingung des Daseyns einer deutschen Literatur, [ohne Ort] 1816

Max Rauner: Bleiben die Regale künftig leer?, in: DIE ZEIT 10.4.2003, Nr. 16

André Schiffrin, Verlage ohne Verleger. Über die Zukunft der Bücher, Mit einem Nachwort von Klaus Wagenbach, Berlin 2000

Friedrich Schleiermacher, Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen (1810, 21830), Kritische Ausgabe heraus-gegeben von Heinrich Scholz, Darmstadt 41977 (= Leipzig 31910)

Georg Siebeck, Enteignung der Autoren und Verleger, datiert 4. März 2003 (11.7.2006), im Internet unter: http://www.mohr.de/enteignung/

Friedrich Uhlig / Wolfgang Peitz, Der Sortimentsbuchhändler. Ein Lehrbuch für junge Buchhändler, Neu bearbeitet und herausgegeben von Wolfgang Peitz, Stuttgart 191992

Klaus Walther, Bücher sammeln (dtv Kleine Philosophie der Passionen), München 2004

Bernhard Wendt / Gerhard Gruber, Der Antiquariatsbuchhandel. Eine Fachkunde für Antiquare und Büchersammler, Vierte von Gerhard Gruber neu bearbeitete Auflage, Stuttgart 2003

Hans Widmann, Geschichte des Buchhandels vom Altertum bis zur Gegenwart. Die Entwicklung in Umrissen auf Grund der Darstellung von Ernst Kuhnert neu bearbeitet und erweitert, Wiesbaden 1952

copyright 2006 Dr. Hans-Peter Willi

 

Leo Tolstoi, Krieg und Frieden (1868/69)

„Ich habe einen Kurs im Schnellesen mitgemacht und bin nun in der Lage, „Krieg und Frieden“ in zwanzig Minuten zu lesen. Es handelt von Russland.“

Als Hochschulpfarrer Dr. Hörnig mir von der ESG-Predigtreihe im WS 2008-2009 in der Tübinger Stiftskirche erzählte und mir die Liste der zugrundegelegten Bücher zeigte, habe ich mir Tolstois Roman „Krieg und Frieden“ ausgesucht, weil ich diesen noch nicht gelesen hatte, aber Gefallen an dem Gedanken fand, diesen Zustand zu ändern. Allerdings wollte ich dabei nicht dem „Rat“ von Woody Allen (siehe oben) folgen und das „Schnellesen“ anwenden. So dauerte meine Lektüre nicht 20 Minuten, sondern gut 2 Monate.

Ein großartiges Werk, das ich gerne zur Lektüre empfehle! Ein „historischer Roman“, der in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts spielt – und weit mehr als das! Beeindruckt hat mich, wie nicht nur das umwälzende äußere Geschehen – eingespannt zwischen den gewaltigen Extremen „Krieg und Frieden“ – geschildert wird, sondern auch die nicht weniger umwälzenden inneren Ereignisse im Leben einzelner Personen, die eingespannt sind in den nicht minder großen Gegensätzen von Tod und Leben, Haß und Liebe, Verzweiflung und Glaube.

„Wir denken immer, wenn wir von unserem ausgetretenen Gewohnheitspfad geworfen werden: jetzt ist alles verloren! Und gerade dann fängt doch für uns das Neue, das Bessere an“.

Leo Tolstoi, Krieg und Frieden, Buch 2, Teil 7, Kapitel 18

Da ich gerne ein Buch mit jemandem zusammen lese, machte ich mich auf die Suche nach einem Mitleser, den ich dann in Hartwig Mybes fand. Darüber habe ich mich ebenso sehr gefreut wie über seine Bereitschaft, das Buch aus seiner Sicht auf dieser Seite kurz vorzustellen. Herzlichen Dank für diese schöne Team-Arbeit! H. P. Willi

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„Es herrscht Krieg. Orte des Geschehens sind St. Petersburg, Moskau, diverse Schlachtfelder in Europa. Napoleonische Truppen rücken vor, werden letztlich zurückgeschlagen. Im Mittelpunkt stehen zwei Familien des russischen Adels, beschrieben in jeweils drei Generationen.

Die „geadelte“ Kultursprache Französisch steht im Gegensatz zu dem militärischen Geschehen. Wohlstand und Armut, Hunger und Tod werfen historische und religiöse Fragen auf. Eine Antwort läßt sich nicht finden, eher die resignierte Einsicht: Es ist alles entschieden. Bereits vor dem, was wir später als Tatsache, als Gegebenes anerkennen. Die Frage nach der Vorher-Bestimmung drängt sich auf.

Der Krieg ist beendet. Ist das jetzt der Frieden? Vom Krieg wissen wir. Was aber ist Frieden? Mit mir selbst? Mit anderen? Mit Gott?“

Hawi My

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Phantomschmerz in der Irre

Philip Roth: Verschwörung gegen Amerika. Roman, dt. Werner Schmitz; München/Wien: Carl Hanser 2005 [am. 2004]. 432 S.

Philip Roth ist kein großer Schriftsteller, – ist ein großer Schriftsteller, die kontradiktorischen Resümees gehen mir abwechselnd im Kopf herum, während ich zum soundsovielten Mal dem, wie soll ich sagen, ehrlichen Falschspiel des Autors mit den längst bekannten biographi-schen und historischen Materialien in Romanform folge. Er hat keine Sprache, er hat die Sprache eines Journalisten, ist natürlich besser als jeder Journalist in der Organisation des Stoffs, vom einzelnen Statement über die jähen Pointen bis zum ausgekochten Plot – das Wort taucht diesmal auch im Titel auf, The Plot Against America, Mehrdeutigkeit zu sehr reduzie-rend übersetzt als Verschwörung gegen Amerika –, und läßt sich doch jederzeit ins raffiniert gemischte Blatt schauen, macht den Fake als Fake kenntlich: die Sätze „Das Pogrom hatte begonnen“ und „Es hatte […] kein Pogrom in Newark gegeben“ stehen auf zwei einander folgenden Seiten. Der fiktive Grundeinfall, Pilot und Nationalheld Lindbergh, der auch ein Antisemit und Nazifreund war, habe als fingierter Kandidat der Republikaner (statt in Wirk-lichkeit Willkie) bei den Präsidentenwahlen im Herbst 1940 über Roosevelt gesiegt (statt um-gekehrt), dessen interventionistische durch eine isolationistische außenpolitische Linie ersetzt und zunächst verdeckt die offensive Virulenz des latent vorhandenen populären Antisemitis-mus entfesselt und gefördert, wird für zwei Geschichtsjahre aus der Perspektive eines vorpu-bertären Jungen und seiner jüdischen Familie, die in der Zerrissenheit und Widersprüchlich-keit ihrer Haltungen und Reaktionen die Situation der bedrohten amerikanischen Judenheit zumal vor dem (in Wirklichkeit) zum Jahreswechsel 1941/42 vollzogenen Kriegseintritt der USA widerspiegelt, fortgesponnen bis zu den Vorformen von Deportation und Pogrom in einem imaginären Jahr 1942, dergestalt eine amerikanische Parallelgeschichte zu den ersten deutschen Jahren nach Hitlers Machtergreifung mehr als frech und ungemein lehrreich zugleich exponierend. Daß die erfundene historische Hintergrundrealität zwischen 1940 und 1942 aus einer Luft gegriffen ist, die realiter der antisemitischen Gespenster voll war, weiß der aufmerksame deutsche Leser etwa der Tagebücher Thomas Manns oder des Briefwechsels Horkheimers und Adornos, welche die dritte Wiederwahl Roosevelts wie eine Erlösung be-grüßten; Roth sorgt umsichtig dafür, daß die epische Parallele nicht schematisch konstruiert, sondern in engster Tuchfühlung mit Potentialen, die es in Amerika wirklich gab, also durch-aus in erheblicher Differenz von den deutschen Vorgängen zwischen 1933 und sagen wir 1939, ausphantasiert und die in kürzester Zeit ins Riesige und Totale wachsende Angst vor einer Vernichtung nicht nur der europäischen Juden – bis heute kann nicht gesagt werden, daß sie gegenstandslos wurde – nacherlebbar wird. Nacherlebbar wahrhaftig, und das ist so ver-rucht wie es klingt, die exakte retrograde Phantasie des Romanciers Roth so großartig wie diabolisch, und daß mit lauter unechten Elementen gearbeitet wird, wird in dem Moment ein-gestanden, wo der Leser sich unter den Suggestionen des Romans längst davon überzeugt hat, daß das Äußerste wenn nicht sich bewahrheitet hat, dann immer noch bewahrheiten kann. Roth bricht das nachträgliche Geschichtsexperiment im Oktober 1944 ab, man atmet nicht auf, der letzte Teil ist eine Nachbemerkung, welche die historischen Materialien dokumen-tiert, mit denen falsch gespielt worden ist, und die dem Leser den befreiten Ausruf: es ist alles nicht wahr, im Hals stecken lassen; just der deutsche Leser kann sich nicht antiamerikanisch trösten, die hundert Seiten des letzten Viertels lassen keinen Zweifel an der Überzeugung des Schriftstellers, daß Hitlers totalitärer Wahn, wie ansteckend immer, die Vereinigten Staaten als ganze nicht überwältigen konnte, aber deshalb ist die Gefahr nicht aus der Welt. Wenn man nicht stets guten Gewissens sich von der unwiderstehlichen Kolportage hat fortziehen lassen bis zum achten (von neun) Kapiteln, „Schlimme Zeiten“, hat man das auch jetzt unauf-lösliche Problem in sich aufgenommen, das hinter der vom Erzähler wörtlich ins Spiel ge-brachten antisemitischen Parole, die Juden verschuldeten ihr Schicksal selbst, sich verkapselt und welches der Erzähler provokant so formuliert: daß „den Antisemiten bei der erfrischen-den Lösung des größten Problems Amerikas in die Hände gearbeitet [ward], indem wir selbst hysterisch zu den Keulen griffen und uns dezimierten“; verschlüsselt: „Gewalt, erlebt man sie bei sich zu Hause, ist etwas Entsetzliches – wie der Anblick von Kleidern in einem Baum nach einer Explosion. Man mag darauf vorbereitet sein, den Tod zu sehen, aber nicht die Kleider in dem Baum.“ Um der herzzerreißenden Beschreibung der unschlichtbaren Span-nungen innerhalb einer der Verfolgung ausgesetzten jüdischen Familie willen, bis hin zu je-nem „völlig unerwarteten Gewaltausbruch, bei dem außer unserem Couchtisch auch [die] Schranke unbeugsamer Rechtschaffenheit zu Bruch gegangen war“, soll dies Kapitel in Deutschland gelesen werden, das ein großer Schriftsteller geschrieben hat. Es ist der Geist, in dem Drach den Roman über den Beginn des Nationalsozialismus in Österreich mit dem Satz beschloß: „Da wußte er plötzlich, daß er seine Mutter ermordet hatte“ – weil er sie, aus Grün-den, die man gut zu nennen pflegt, bei seiner Flucht ins Ungewisse in der Nähe ihrer Familie, aber auch der Bedrohung, der sie vorausstarb, zurückließ. Die Angst derer, die sie empfinden oder, sagen wir zagend, nachempfinden wollen, konzentriert sich heute auf die Bedrohung Israels. Der Autor Philip Roth hat sich der Zumutung, durch Phantasievariation seiner ameri-kanischen Sozialisation ein israelisches „Gegenleben“ sich zuzueignen, schon mehrfach un-terzogen; „Operation Shylock“ heißt der zwölf Jahre alte Roman, der mich als Hiesigen am meisten beeindruckte. Im Spiel gegen Amerika tritt er sich neuerdings näher als nah. Der deutsche literarisch und fürs jüdische Schicksal Interessierte muß die Romane von Kaniuk lesen; die von Roth soll er lesen. Der Schlußsatz des einstweilen letzten, durch die unglaubli-che Handlung beglaubigt, bezieht sich gegenständlich auf das Verhältnis des als Icherzähler fungierenden Knaben zu einem ungeliebten Kameraden, an dessen Unglück – er verliert auch die Mutter in den wirren antisemitischen Unruhen – er sich schuldig glaubt, und ist ineins die erschütternde Kurzformel fürs Verhältnis des Autors zur in ihrem europäischen Teil ausge-löschten Judenheit: er sei der Stumpf gewesen, ich die Prothese.

copyright 2005 Reinhard Schulte (Tübingen)

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