Eine von Feiningers Kathedralen

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Sep
15

Jan Snela über die Buchhandlung H.P. Willi in Tübingen (veröffentlicht im Börsenblatt des Deutschen Buchhandels Nr. 37 am 15.9.2016 auf Seite 33 – der Text wird hier mit freundlicher Genehmigung des Verfassers und des Börsenvereins wiedergegeben)

 

Eine von Feiningers Kathedralen

Vom Lärm der Wilhelmsstraße ist nichts zu hören in der Buchhandlung H.P. Willi. Vielmehr ist die Stille perfekt, woran auch die Eingangsklingel, die recht gemächlich anhebt nach und nach zu verstummen, nichts ändert. Fast meinte man, den Anfang einer jener auf leise Weise gewaltig anhebenden Bachkantaten gehört zu haben. Linkerhand hinterm Verkäuferschreibtisch sitzt einer der drei hier im Wechsel Dienst habenden Männer, feingliedrig und diskret, jeweils mit Kneifer als Markenzeichen und der leicht vorgebeugten Haltung des Organisten, der vor den akustischen Mächten, über die er verzichtvoll gebietet, bescheiden sein Haupt beugt.

Denn in den orgelhohen Regalen findet man nicht nur die andernorts üblichen kläglich verminderten Mollakkorde vereinzelter Titel sondern von Heidegger gleich das gesamte kirchenmausgrau edierte Werk; alle Junius-Einführungen und Rowohlt-Monographien, gefühlt ausnahmslos alle Bücher der STW-Reihe; Derrida, Baudrillard, Lévinas, Bataille …; nicht nur eine sondern gleich drei verschiedene Ausgaben von „Zettels Traum“ und so manchen weiteren literarischen Klassiker, nach dem man anderswo vergeblich gefragt haben würde. Kurzum: die Konzentration aufs Wesentliche verbindet sich mit der Opulenz einer ehrfurchtgebietenden Klaviatur.

Wie viele mit der touristischen Motivation des profanen Bücherstöberns Hereingestolperte habe ich schon in heiliger Scheu erstarren gesehen in der Konfrontation mit der hiesigen Spielart eines als Hochamt begriffenen Buchhandels! Und auch mich beschleicht ja vor Ort immer wieder das Gefühl, dass ich, wenn nicht ein besserer, so doch ein klügerer, vergeistigterer, mehr einem der drei hier amtierenden Würdenträger ähnelnder Mensch geworden sein würde, sollte es mir jemals gelungen sein, all die hier zuhandenen Bücher zu lesen.

Aber für Gemütsverdunklung und Zerknirschung angesichts noch ausstehender Aletheia ist hier nicht der rechte Ort. Schließlich ist man in keiner kauernden Kartause gelandet, sondern fühlt sich weit eher so, als sei man in eine von Feiningers Kathedralen hineingeraten. Die hier herrschende Kirchenkühle kriecht nicht aus Mauern, sondern waltet im protestantisch geläuterten Äther selbst. Das Licht streicht in breiten Strahlen durch die Glasfassade und bricht sich verschiedentlich nuanciert auf den Flächen der in apollinischer Akkuratesse und mit viel Bedacht ausgelegten Bücher, unter denen man übrigens Batailles „Obszönes Werk“ wahrscheinlich sehr wohl, den allerorts üblichen sonstigen Schmuddelkram aber niemals finden würde.

Beichtstühle gibt es bei H.P. Willi, bei aller Regale füllenden Liebe zur Ökumene, natürlich nicht. Dafür, in einer der Ecken, eine Sitzgelegenheit, die alles, was ich an häuslichen Patriarchenthronen bisher zu Gesicht bekommen habe, weit überbietet; der Longin unter den Ohrensesseln sozusagen. Eine Beichte sei mir dennoch erlaubt: Wenn ich darin versinke, den grünen Herrenhosen-Cord seines Bezugs unter den Fingerkuppen und mit Blick auf die Reihe der an den Regalseiten angebrachten Würdenträger – von Archytas und Anthistenes über Calvin, Luther, Novalis und Schelling bis hin zu aktuelleren Geistesgrößen – komme ich mir trotz all der Jahre an der Titte der Alma Mater manchmal vor wie ein noch keinerlei Rede mächtiger kleiner Junge auf dem Schoss eines großen Mannes.

Jan, Snela, 1980 in München geboren, studierte Komparatistik, Slawistik und Rhetorik in München und Tübingen. Für die Titelgeschichte aus seinem im Frühjahr 2016 erschienenen Erzählband „Milchgesicht“ (Klett Cotta) ist er beim Open Mike-Wettbewerb prämiert worden.

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