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„Des vielen Büchermachens ist kein Ende“

Posted Posted by Hans-Peter Willi in Blog     Comments Kommentare deaktiviert für „Des vielen Büchermachens ist kein Ende“
Mai
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Theologische Literatur im Spannungsfeld von Wissenschaft und Ökonomie

Hans-Peter Willi

 

Sehr geehrter Herr Ephorus und lieber Herr Studieninspektor,
sehr geehrte Repetentinnen und Repetenten,
liebe Stiftlerinnen und liebe Stiftler, sehr geehrte Gäste,

 

für Ihre Einladung ins Evangelische Stift heute Abend danke ich Ihnen sehr herzlich. Sie haben mir damit eine große Freude bereitet. Wie Sie soeben erfahren haben, bin ich wie Sie ein Student der Theologie gewesen – und in einem bestimmten Sinne versuche ich noch heute einer zu sein. Wenigstens verstehe ich die Tätigkeit als Buchhändler von Anfang an auf meine Weise als „theologische Existenz“. In dieser Hinsicht fühle ich mich mit Ihnen verbunden und freue mich über das Zusammensein mit Ihnen. Im Anschluß an den Vortrag ist die Möglichkeit zu Rückfragen vorgesehen; und ich würde mir wünschen, dann mit Ihnen ins Gespräch zu kommen. Mein Vortrag hat vier Teile. Im 1. Teil will ich einiges zur klassischen Auffassung von Begriff, Struktur und Funktion des Buch-handels sagen. Im 2. Teil berichte ich von meinen persönlichen Erfahrungen als Buchhändler hier am Ort. Der 3. Teil behandelt die momentane Situation des Buchhandels. In allen Teilen will ich mich bemühen, immer wieder speziell auf die wissenschaftliche bzw. die theologische Literatur einzugehen. Beenden möchte ich meinen Vortrag im 4. Teil mit einigen Anmerkungen zur theologischen Bücherkunde und zu dem, was dem Leser zu tun übrig bleibt.

 

1. Zur klassischen Auffassung vom Begriff des Buchhandels

Die theologische Literatur stellt einen kleinen Ausschnitt der Literatur dar (deutlich unter 1% am Gesamtumsatz) und kann darum nicht isoliert betrachtet werden. Wenn ich heute Abend auf wesentliche Bedingungen der theologischen Literatur eingehe, wozu auch ökonomische Faktoren gehören, dann sehe ich meine Aufgabe zuerst darin, von den Bedingungen der Literatur überhaupt zu reden, und im Zusammenhang mit diesen Bedingungen kommt der Begriff des Buchhandels in den Blick. Es lohnt sich, zunächst den Begriff des Buchhandels näher zu betrachten. Was ist Buchhandel? Und: Wozu ist der Buchhandel notwendig, wozu ist er gut? Die elementare Antwort lautet: Der Buchhandel ist dazu da, die räumliche und zeitliche Distanz zwischen Autoren und Lesern durch den Transfer der Texte zu überwinden; daß also das, was die Autoren schreiben, auf dem Wege von Buchherstellung und Buchvertrieb der Öffentlichkeit zugänglich wird, d.h. von möglichst vielen anderen Personen gekauft und gelesen werden kann.

Alles, was zwischen dem Autor und dem Leser steht, ist der Buchhandel – und dieses Dazwischenstehen ist seinem Sinn und Zweck nach natürlich nicht Hindernis (was freilich vorkommen kann), sondern auch und vor allem eine Förderung. Was ist mit Buchhandel im einzelnen gemeint? Gewöhnlich versteht man unter dem Buchhandel ausschließlich die Buch-handlungen, also die Orte und Geschäfte, in denen Bücher zum Kauf angeboten werden. In der Buchhandelsbranche versteht man darunter aber mehr, nämlich insgesamt vier unterscheidbare Zweige, die organisatorisch im Börsenverein des Deutschen Buchhandels e.V. zusammengeschlossen sind: (1.) die schon erwähnten Buchhandlungen, die Einzelhändler, auch das Sortiment oder die Sortimentsbuchhandlungen genannt, gut 4000 zur Zeit in Deutschland. Sortiment bedeutet Auswahl; gemeint ist die Auswahl an Büchern, die eine Buchhandlung in ihren Geschäftsräumen für die Kunden vorrätig hält und zu zeigen vermag. Die Sortimentsbuch-handlungen gehören zum verbreitenden Buchhandel, zu dem man auch noch (2.) den Zwischenbuchhandel zählt: z.B. die Auslieferungen und die Barsortimente (wenn Sie in einer Buchhandlung ein Buch bestellen, das am nächsten Tag schon für Sie da ist, dann kommt es in der Regel vom Barsortiment). Zwischenbuchhändler gibt es in Deutschland momentan 79. Ferner gibt es (3.) die Antiquariate, die in den offiziellen Statistiken meist ganz weggelassen werden, weil es für diese Branche gar keine aussagekräftigen Zahlen gibt und weil ihr Anteil am gesamten Büchermarkt verschwindend gering ist (vermutlich unter 1% des Gesamtumsatzes mit Büchern). Die antiquarischen Buchhandlungen könnte man den bewahrenden Buchhandel nennen (Wendt/Gruber, 1). In Deutschland – so schätze ich – gibt es ungefähr 1200 bis 1500 professionelle Antiquariate (oft übrigens Geschäfte, die von nur 1 Person betrieben werden). Vom verbreitenden und bewahrenden Buchhandel unterscheidet man (4.) den herstellenden Buchhandel: das sind die Verlage. Die Zahl der Buchverlage liegt in Deutschland derzeit bei knapp 2000. Bemerkenswert ist der Sachverhalt, daß von der Antike bis ins 18. Jahrhundert hinein die verschiedenen Zwischenglieder zwischen Autor und Leser meistens in einer Hand vereint waren. Ob nun die Bücher in der Antike und im Mittelalter durch Abschreiben hergestellt wurden, oder seit Mitte des 15. Jahrhunderts durch den Druck, spielt in dieser Hinsicht eine sekundäre Rolle. Der Hersteller, der Verleger und der Buchhändler ist oft ein- und dieselbe Person. „Erst seit Mitte des 18. Jahrhunderts gehen Drucker, Verleger und Buchhändler getrennte Wege. Der reine Buchverlag ist eine Erscheinung der Moderne“ (Kerlen, Verlag, 4).

 

Nun noch einmal die Frage: Wozu ist der Buchhandel da?

Nehmen wir an, Sie schreiben eines Tages an einer theologischen Disserta-tion. Ist sie glücklich fertiggestellt und von der Fakultät angenommen worden, haben Sie zwei Möglichkeiten: Sie können die notwendige Anzahl der Pflichtexemplare im nächsten copy-shop herstellen lassen und im Dekanat abgeben – dann ist alles schon erledigt und Sie erhalten umgehend Ihre Promotionsurkunde. Oder aber Sie suchen einen Verlag für Ihre Arbeit und lassen sich auf einen weiteren mühevollen Weg ein: Wenn Sie einen Verlag gefunden haben (was auch mühsam sein kann), müssen Sie den Text noch einmal überarbeiten und druckfertig machen. Warum werden Sie sich dennoch dieser Mühe unterziehen? Nun: Sie erwarten von Verlag und Buchhandel eine professionelle Herstellung und einen professionellen Vertrieb ihres Buches. Das bedeutet im einzelnen: Sie erwarten (1.) Qualität. Qualität fängt beim Inhalt an, und von der Qualität Ihrer Arbeit sind Sie natürlich überzeugt. Jetzt hoffen Sie aber auch, daß andere diese Qualität erkennen und anerkennen. Von Ihrem Doktorvater, dem Zweitgutachter und der Fakultät haben Sie die wesentliche Anerkennung schon erhalten. Aber wenn Sie Ihre Arbeit veröffentlichen wollen, drückt sich Anerkennung nicht zuletzt dadurch aus, daß ein Verlag Ihre Dissertation auswählt, um sie in sein Programm aufzunehmen. Des weiteren bedeutet Qualität, daß die Form Ihrer Arbeit dem Inhalt angemessen ist, daß sie so fehlerfrei wie möglich ist und dem Standard wissenschaftlicher Editionen in jeder Beziehung entspricht. Es soll eben ein richtiges Buch sein, das in einem richtigen Verlag erscheint, der für die von Ihnen bearbeitete Thematik einschlägig bekannt ist und dabei für ein bestimmtes Qualitätsniveau sowie für eine ansprechende Gestaltung steht. Sie wünschen sich (2.) Aufmerksamkeit: daß Ihr Verlag mit seinem Namen für Ihr Buch einsteht, seine Veröffentlichung bekanntmacht, nicht zuletzt durch die Vergabe einer ISBN (International Standard Book Number) und durch einen Eintrag im VLB, dem Verzeichnis lieferbarer Bücher, daß der Verlag in angemessener Weise und an den richtigen Orten für das Buch wirbt. Und Sie wollen (3.) die Verbreitung: daß Ihre Arbeit über die Pflicht-exemplare für die Dissertations-Abteilung der Bibliotheken hinaus verbreitet wird. Ihr Buch soll publik werden und allenthalben greifbar sein. Vielleicht wünschen Sie sich, daß Ihre Arbeit bei Erscheinen im Novitäten-Fenster bestimmter Buchhandlungen steht. Sie freuen sich, wenn Ihr Verlag Rezensionsexemplare verschickt und Ihr Buch dann in den entsprechenden Fachorganen besprochen wird. Nicht unwichtig für die Verbreitung eines Buches ist, daß es vom Verlag für einen längeren Zeitraum lieferbar gehalten wird, d.h. im Idealfall, daß die Nachfrage solange Erfüllung finden kann, wie sie besteht. Kurzum: Sie wollen, daß Ihr Buch von allen möglichen Interessenten in Deutschland, aber auch in anderen Ländern, erworben und gelesen werden kann. All das unter Punkt 1-3 Gesagte kostet natürlich Geld. Darum erwarten Sie (4.) die Finanzierung ihres Buches. Ich weiß, dies ist gerade bei Qualifizierungsarbeiten ein heikler Punkt. Wenn Sie nicht selber das Buch nach den Vorgaben des Verlags satzfertig abgeben, wird man vielleicht von Ihnen erwarten, daß Sie sich an den Satzkosten beteiligen. Oder man wird Sie höflich bitten, Druckkostenzuschüsse herbeizuschaffen. Aber bedenken Sie bitte, daß ja auch die Herstellung von vielleicht 80 Kopien Ihrer Arbeit im copy-shop bei einer 500-Seiten-Arbeit einiges Geld kosten kann. Wenn Sie den Satz selber machen und ein wenig Glück haben, wird der Verlag für die komplette Finanzierung sorgen. Die Herstellung, der Druck und die Bindung müssen ja gleich am Anfang bezahlt werden, bevor noch ein einziges Buch verkauft ist. Und die gedruckten Exemplare des Buches, bei einer Dissertation vielleicht 300 Stück, müssen in einem Lager untergebracht werden – auch das verursacht Kosten genauso wie die Werbung und der Vertrieb. Alle diese Kosten trägt der Verlag mit seiner Finanzierung.

Als (5.) Punkt nenne ich Ihre Erwartung, daß durch den Verlag Ihre Urheberrechte gewahrt und gesichert werden. Das hängt mit dem (6.) und letzten Punkt zusammen: Sie wünschen sich ein Honorar, eine Entschädigung für Ihre Mühe bzw. eine Beteiligung an dem möglichen Gewinn. Nun, auch das ist bei einer Doktorarbeit ein heikler Punkt; die meisten Verlage gewähren für die Veröffentlichung einer Dissertation kein Honorar. Es gibt aber Ausnahmen von der Regel. Erwähnenswert ist, daß Sie u.U. durch eine Meldung Ihrer Veröffentlichung bei der Verwertungsgesellschaft Wort an den Ausschüttungen beteiligt werden. Die VG Wort ist ein Zusammenschluß von Autoren und Verlagen, der Tantiemen aus Zweitnutzungsrechten (z.B. Kopien von Studenten im copy-shop) einnimmt und weitergibt. Für manche ist das ein kleiner Trost. Und außerdem besteht ja Hoffnung: Wenn Sie im akademischen Bereich weiterarbeiten, werden Sie vielleicht eines Tages als Professor ein Lehrbuch veröffentlichen, das zu einem Standardwerk mit zahlreichen Folgeauflagen wird: Dann werden Sie in Gestalt von Honoraren gewiß auch in finanzieller Hinsicht Anerkennung erfahren. Dazu also ist der Buchhandel da: für Qualität, Aufmerksamkeit, Verbreitung und Finanzierung des Buches sowie für die Wahrung der Urheberrechte und wenn möglich für ein angemessenes Honorar zu sorgen.

Wesen und Struktur des Buchhandels wurden zu Beginn des 19. Jahr-hunderts von dem berühmten Buchhändler Friedrich Perthes auf klassische Weise beschrieben. Der Titel seiner 1816 anonym erschienenen Schrift lautet: „Der deutsche Buchhandel als Bedingung des Daseyns einer deutschen Literatur“. Darin heißt es: „§.2. Deutsche Literatur ist alles in Schrift Verfaßte und durch den Druck verbreitete, was in unserer Nation durch Nachdenken und Forschen zur Wissenschaft gebracht worden ist; Alles, was der Geist durch Anschauung und Phantasie entdeckt, bildet und aufstellt, durch Witz und Scharfsinn erfindet, vergleichet, erhellet, durch Beredsamkeit klar und lichtvoll darstellet. §.3. Um eine Literatur zu besitzen, bedarf es, insbesondere nach Lage und Verhältniß der Deutschen, folgende äußere Bedingungen: 1) Aufbringen der Kosten zum Druck der Schriften. 2) Entschädigung der Autoren für Bekanntmachung und Herausgabe ihrer Schriften. 3) eine Anstalt um über alle Länder, wo das Deutsche Muttersprache ist, die Druckschriften so zu verbreiten, daß allenthalben möglichst gleichartig lebhafter Antheil an Sprache, Wissenschaft und Literatur erregt und erhalten werde. §.4. Erfüllung dieser äußern Bedingungen einer Literatur gewährt: Der deutsche Buchhandel …“ (13f). [Gegen Ende dieser Schrift spricht Perthes noch zwei weitere Punkte an: zum einen das „Eigenthums-Recht der Autoren an ihren Schriften“ und zum anderen die „Ausbildung der Organisation des deutschen Buchhandels“ (44).]

Beachten Sie bitte, daß Perthes zur Literatur eben nicht nur die Belletristik rechnet, sondern alles in Schrift Verfaßte, und daß er als erstes Segment der Literatur die schriftlichen Erzeugnisse der Wissenschaft nennt. Perthes wäre also keineswegs mißverstanden, wenn wir den Titel seiner Schrift folgendermaßen auf unser Thema anwenden würden: Der Buchhandel als Bedingung des Daseins einer jeglichen und also auch einer theologischen Literatur. Auf dem Hintergrund dieser klassischen Bestimmung des Buchhandels ist es nicht schwer zu erklären, daß das Buch nicht bloß als Ware, sondern als Kulturgut betrachtet wird. Aus diesem Blickwinkel werden Verlage und Buchhandlungen dann auch weniger als Kaufhäuser, sondern als kulturell bedeutsame Orte verstanden, und Verleger wie Buchhändler werden nicht nur als Kaufleute angesehen: In der guten alten Zeit sind sie als gelehrte Vermittler von Geist und Kultur in Erscheinung getreten. Ein berühmtes Beispiel dafür ist der Tübinger Verleger und Buchhändler Johann Friedrich Cotta, dessen Stammhaus gleich neben der Stiftskirche steht (und in dessen Geschäftsräumen immer noch eine Buchhandlung zuhause ist). Cotta lebte von 1764 bis 1832; er verlegte u.a. die Werke von Goethe und Schiller, Uhland und Kleist, Hölderlin und Schelling. Sein Name lebt im Stuttgarter Verlag Klett-Cotta fort.

 

2. Als Buchhändler in Tübingen

Seit gut 10 Jahren bin ich hier am Ort als Buchhändler tätig, und zwar in der ganzen Bandbreite des Begriffs. In meinem kleinen Geschäft sind mit Ausnahme des Zwischenbuchhandels alle im 1. Kapitel beschriebenen Sparten des Buchhandels vereinigt, die sonst meistens getrennt begegnen: Antiquariat, Buchhandlung und Verlag. Begonnen habe ich im Januar 1996 als reiner Antiquar. Von Anfang an habe ich mich auf geisteswissenschaftliche, vor allem auf theologische und philosophische Bücher spezialisiert. Als Quereinsteiger wollte ich mich auf die Themen konzentrieren, in denen ich mich zuhause fühle; und genau das ist es, was mir an meinem Beruf Freude macht: denn mir geht es nicht nur um Bücher überhaupt, sondern auch um bestimmte Inhalte. In den ersten drei Jahren habe ich vier gedruckte Antiquariatskataloge erstellt – etwas, was ich heute wegen der Entwicklung des Internets in dieser Form nicht mehr mache. Der wichtigste Katalog erschien im März 1998 zum 500. Buchdruck-jubiläum in Tübingen mit 500 Büchern aus 500 Jahren Tübinger Druck- und Verlagsgeschichte. Darunter waren das erste in Tübingen gedruckte Buch – eine Inkunabel aus dem Jahr 1498 (Paulus Scriptoris – ein Theologe!) – , Reuchlins Augenspiegel, dessen Titelblatt zu meinem Firmenlogo wurde (heute auf jedem Lesezeichen, auf meinen Tüten, der Leuchttafel usw.), Nauklers Weltchronik, ferner in Tübingen gedruckte Erstausgaben von Goethe, Schiller, Kleist, Schelling, Hölderlin, Uhland, David Friedrich Strauß: also von den Anfängen bis zur neueren Zeit der Tübinger Buchproduktion. Das erste in Tübingen gedruckte Buch kaufte ein Tübinger Sammler, einen sehr interessanten Band mit Drucken aus der Zeit um 1600 hat die Tübinger Universitätsbibliothek erworben, sogar das Evangelische Stift hat sich mit einer Akquisition engagiert (Gottlob Christian Storr [1746-1805] über Kants philosophische Religionslehre 1794 – Sie haben also auch ein Buch aus meinem Katalog 4 in Ihrem Bibliotheksbestand), aber die meisten anderen Verkäufe gingen an Kunden außerhalb Tübingens, zum Teil auch ins Ausland.

1999 bin ich mit dem Ladengeschäft von der Hinteren Grabenstraße 47 in die Wilhelmstraße 8 umgezogen: Und erst dort habe ich mich richtig entfalten können. Dort bot sich mir nicht nur eine mehr als doppelt so große Verkaufsfläche wie bisher, sondern auch eine völlig andere Lauflage, die für ein Bücherangebot sehr gut geeignet ist. Das Jahr 1999 bedeutete in mehrfacher Hinsicht einen großen Einschnitt. Ich habe zu dieser Zeit vier Entscheidungen getroffen: 1. für den Aufbau einer Fachbuchhandlung mit meiner schon bestehenden Spezialisierung bei gleichzeitiger Weiterführung des Antiquariats; 2. für die Aufnahme des Modernen Antiquariats in mein Angebot; 3. für einen Einstieg in den Handel über das Internet; und 4. für ein verlegerisches Engagement. Zu allen vier Punkten möchte ich etwas sagen, zugespitzt auf die theologische Literatur.

 

Ad (1.): Fachbuchhandlung

Wenn man als Fachbuchhandlung u.a. wissenschaftlich-theologische Literatur führt, kommt man an der Tatsache nicht vorbei, daß diese Sparte in den letzten 10 bis 20 Jahren unter mindestens drei Entwicklungen leidet: (1.) ist die Zahl der Theologiestudenten drastisch zurückgegangen, (2.) haben die öffentlichen wissenschaftlichen Bibliotheken harte Einschnitte ihrer Etats für Neuerwerbungen hinnehmen müssen, und (3.) leidet die Sparte wie fast der gesamte Einzelhandel unter einer zunehmenden Konsumflaute. Diese Veränderungen haben die Buchhandels- und die Verlagslandschaft nicht unberührt gelassen. Welche Verlage mit einem wissenschaftlich-theologischen Programm wären zu nennen? Ohne Anspruch auf Vollständigkeit und Unfehlbarkeit möchte ich meine persönliche Einschätzung der Lage mitteilen: Die beiden Fachverlage mit dem strengsten und besten wissenschaftlich-theologischen Konzept sind heute Mohr-Siebeck und Walter de Gruyter. Sodann möchte ich deutlich konfessionell bzw. kirchlich aufgestellte (inhaltlich und ökonomisch) Verlage erwähnen: den Verlag der Evangelischen Verlagsanstalt Leipzig und den Neukirchener Verlag. Die Evangelische Verlagsanstalt Leipzig hat in den letzten Jahren durch eine kluge Verlagspolitik ihren Bereich mit wissenschaftlich-theologischer Literatur konsequent und attraktiv (auch im Blick auf die Bücher-Preise) ausgebaut. Ferner möchte ich als Verlage mit einem theologischen Programm aufzählen: Herder, Schöningh, Benzinger (Patmos), Vandenhoeck & Ruprecht, das Gütersloher Verlagshaus, Kohlhammer, Brunnen, Calwer, Lit-Verlag, Theologischer Verlag R. Brockhaus, Hartmut Spenner Waltrop und gewiß noch einige andere, meist kleinere Verlage. Zu nennen wäre auch noch utb (Universitäts-taschenbücher) als Verlagsgemeinschaft.

Doch die Sparte mit wissenschaftlich-theologischer Literatur ist in einigen dieser Verlage im Vergleich zum übrigen Programm recht schmal, und manches deutet darauf hin, daß diese Sparte dort in den nächsten Jahren noch schmaler werden wird. Das ist auch an renommierten Häusern wie dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht und dem Gütersloher Verlagshaus zu beobachten. Immerhin handelt es sich bei diesen beiden um Verlage, die über viele Jahrzehnte und noch vor 10 oder 15 Jahren unbedingt im vorderen Bereich hätten genannt werden müssen. Ob sie aber in der Zukunft noch in diesem Bereich bleiben werden, ist nicht sicher. Tatsächlich haben diese Verlage in den letzten 10 Jahren ihre theologisch-wissenschaftliche Sparte immer mehr ausgedünnt zugunsten der Orientierung an einem breiteren Publikumsinteresse. Wenn Sie sich ansehen, welche Neuerscheinungen dieser Verlage in den letzten Jahren auf den Markt gekommen sind, werden Sie unschwer feststellen, daß insbesondere die Bereiche Lebenshilfe und allgemeines religiöses Sachbuch stark zugenommen haben, während die Neuerscheinungen in der theo-logischen Wissenschaft zurückgegangen sind. Eine ähnliche Entwicklung ist übrigens auch in den Buchhandlungen zu beobachten, selbst in denen der Universitätsstädte. Wenigstens höre ich aus Theologie-Hochburgen wie Heidelberg und Marburg ähnlichlautende Nachrichten. In Tübingen versuche ich dem allgemeinen Trend entgegenzuwirken, und der Anklang, den ich nicht zuletzt bei Besuchern finde, zeugt davon, daß ein solcher Versuch selten geworden ist.

 

Ad (2.) Modernes Antiquariat

Ein unübersehbares Zeichen des Umbruchs war der zunehmende Umfang dessen, was man die Lagerbereinigung der Verlage auf dem Weg über das Moderne Antiquariat nennen könnte. Manche sprechen auch vom Ver-ramschen. Verramschen nennt man das Abstoßen eines nur noch schwer verkäuflichen Buches (bei utb unter 150 verkaufte Exemplare eines Buch-titels pro Jahr) zu einem wesentlich niedrigeren Preis als dem ursprünglichen Ladenpreis an das Moderne Antiquariat. Voraussetzung dafür ist, daß die Ladenpreise der betroffenen Buchtitel aufgehoben werden; sodann können sie zur Hälfte des früheren Preises oder noch günstiger angeboten werden. Lange Zeit haben sich Verlage, aber auch Buchhandlungen gescheut, Bücher über das Moderne Antiquariat zu vertreiben. Man fürchtete zum einen die Aushöhlung der Buchpreisbindung; zum anderen fürchtete man um den guten Ruf: Man wollte nicht als Ramschladen gelten bzw. in Erscheinung treten. Inzwischen sieht die Lage anders aus. Als ich vor gut 7 Jahren in der Wilhelmstraße anfing, habe ich mich so offen wie möglich mit diesem Phänomen auseinandergesetzt und mich dann dafür entschieden, das Moderne Antiquariat in meine Buchhandlung aufzunehmen. Ausschlag-gebend war aber vor allem der Grund, daß auch gute theologische und philosophische Fachbücher ins Moderne Antiquariat gelangten – das hatte es in früheren Zeiten in dieser Fülle nicht gegeben. An diesem qualitativ hochwertigen Angebot zu niedrigen Preisen konnte ich unmöglich mit Verachtung vorübergehen. Also habe ich mich auf den Standpunkt gestellt: Die Wirklichkeit, so wie sie ist, und die Verlagsentscheidungen, so wie sie getroffen werden, kann ich nicht ändern – ich kann nur die Gegebenheiten genau beobachten und das Beste für mein Geschäft und für meine Kunden daraus zu machen versuchen. Das entscheidende Kriterium ist natürlich auch in diesem Fall meine fachliche Ausrichtung. Als so manches gute Buch beim Verlag schon längst vergriffen gemeldet war, konnte ich es durch das Moderne Antiquariat für meine Kunden noch über einen längeren Zeitraum hinweg lieferbar halten, so z.B. die Anthropologie von Wolfhart Pannenberg oder das Standardwerk über die christologischen Hoheitstitel von Ferdinand Hahn. Insgesamt habe ich einen eigenen Standpunkt gewonnen, was das sog. Verramschen betrifft. Natürlich gibt es in der Fülle der Bücher auch viele schlechte und überflüssige Bücher, und wenn diese genau aus diesem Grund – weil sie schlecht oder überflüssig sind – nicht zum ursprünglichen Ladenpreis verkauft werden können, dann ist es angemessen, von Ramsch und Verramschen zu sprechen. Doch es gibt auch viele gute und sinnvolle Bücher, die sich ab einer bestimmten Menge von Exemplaren schwer zum Originalpreis verkaufen lassen – aus welchem Grund auch immer. Solche Bücher möchte ich nicht als Ramsch bezeichnen; ein gutes Buch wird nicht dadurch schlecht, daß seine Auflagenhöhe falsch kalkuliert wurde und sein Preis schließlich der Marktsituation angepaßt wird. Ein Buch ist nicht in jeder Hinsicht mit einer Aktie vergleichbar, die dadurch an Wert verliert, daß sie im Preis fällt. Wenn ein Buch ins Moderne Antiquariat kommt, ist dies doch letztlich für alle Beteiligten besser, als wenn das Buch wie Blei im Lager liegt oder gar makuliert wird. Der Autor freut sich, weil sein Buch nun doch wieder gekauft und gelesen wird, der Verlag freut sich, weil er die Lagerkosten los wird und doch noch etwas für die abgeschriebenen Bücher bekommt, der Buchhändler freut sich, weil er gute Bücher zu einem günstigen Preis anbieten kann, und schließlich freut sich auch der Kunde, weil er sich endlich ein Buch kaufen kann, das ihm bisher zu teuer war. In jedem Fall ist das Moderne Antiquariat ein Gradmesser für eine Über-produktion, die manchmal nicht zu vermeiden ist, die aber auf die Dauer bzw. ab einer bestimmten Größenordnung wirtschaftlich ungesund ist. Nach meinem Eindruck sind auf dem Feld der theologischen Fachverlage die schmerzhaftesten Lagerbereinigungen durchgeführt; insgesamt ist man in allen Häusern kräftig bemüht, sich auf die veränderte Situation einzustellen. Tröstlich finde ich, daß nicht alle Verlage mit einer Ausdünnung des theologischen Programms auf die Umsatzeinbrüche reagiert haben. Verlage wie Mohr Siebeck hier in Tübingen haben sich auf ihre Kernbereiche und ihre Stärken besonnen und diese konsequent weiter ausgebaut, etwa durch mehr Präsenz auf dem englischsprachigen Markt. Ein Verlag wie die Evangelische Verlagsanstalt Leipzig hat darüber hinaus gezeigt, daß man auch unter den heutigen Umständen erfolgreich ein Pro-gramm auf dem wissenschaftlichen Feld aufbauen kann.

 

Ad (3.) Buchhandel über das Internet

Die Vertriebsform über das Internet hat für Bücher die größten Steigerungsraten, allerdings hauptsächlich bei den großen Internet-Plattformen. Im Jahr 1999 wurden mit Büchern 84 Millionen Euro über das Internet umgesetzt, 2002 waren es 438 Millionen und 2005 633 Millionen Euro (geschätzt). Auch ich habe mich von Anfang an dafür entschieden, im Internet präsent zu sein. Über meine homepage kann man auch im VLB recherchieren und neue Bücher online bestellen. Außerdem biete ich meine antiquarischen Bücher über das Internet an. Seit dem Herbst 1999 bin ich Mitglied im zvab (im Zentralen Verzeichnis antiquarischer Bücher) – die meisten von Ihnen werden es kennen und gerne nutzen. Im Grunde ist das Internet mit seiner weltweiten Vernetzung und Recherchemöglichkeit das ideale Medium für den Handel mit dem antiquarischen Buch. Stellen Sie sich vor: Sie betreten ein Antiquariat mit über 10 Millionen Büchern; und in Sekundenschnelle können Sie diesen unvorstellbaren Buchbestand durchsuchen und feststellen, ob Ihr gesuchtes Buch angeboten wird oder nicht. Auf diese Weise können Sie die Nadel im Heuhaufen nicht nur erstaunlich leicht finden, sondern Sie können oft auch noch unter verschiedenen Angeboten auswählen. In den letzten 10 Jahren hat das Internet zu einer tiefgreifenden Umstrukturierung des Antiquariatsbuchhandels geführt. Einige der Konsequenzen sind: (a.) viele Kollegen mußten ihren Laden schließen und sich ins Versandgeschäft über das Internet zurückziehen; denn das leibhaftige Stöbern in den Anti-quariatsläden verlor massiv an Attraktivität zugunsten des Suchens im online-Angebot (was durch Suchbegriffe wie Autorennamen und Buchtitel sekundenschnell erfolgt); (b.) es gibt zwar noch Antiquare, die Kataloge drucken lassen und an ihre Kunden versenden, aber die meisten bieten Bücher nur noch über den digitalen Katalog im Internet an (so auch ich); (c.) eine große Transparenz und Konkurrenz. Recht besehen hat der Internethandel aber sowohl für Käufer als auch für Verkäufer große Vorteile – Voraussetzung ist natürlich, daß man sich auf die neue Situation eingestellt hat und die Vorteile zu nutzen versteht.

 

Ad (4.): Verlag

1999 bin ich auch verlegerisch tätig geworden. Es handelt sich um einen Nachdruck, einen Reprint. Bei einem Reprint geht es darum, einen bereits früher gedruckten Text, der seit längerem nicht mehr erhältlich ist, in unveränderter Gestalt noch einmal herauszubringen. Das klingt zunächst nicht sehr aufregend. Dennoch empfand ich es als spannend; und dazu könnte ich eine lange Geschichte erzählen. Hier nur kurz folgendes: Durch meine antiquarische Tätigkeit hatte ich festgestellt, daß die 6-bändige, von Josef Nadler 1949-1957 herausgegebene historisch-kritische Gesamtaus-gabe der Werke Johann Georg Hamanns sehr gesucht war und im Anti-quariat zu hohen Preisen zwischen 600 und 1200 DM gehandelt wurde. Hamann, der übrigens seinerseits ein leidenschaftlicher Büchermensch war, ist sowohl für Theologen als auch für Philosophen und Germanisten von Interesse – und darum paßte er auch optimal zur inhaltlichen Ausrichtung meines Geschäfts. Angeregt durch den Rat eines guten Freundes und mit Unterstützung eines befreundeten Verlegers kam der Reprint zu einem günstigen Preis und mit einer Gesamtauflage von 800 Exemplaren zustande. Kurz nach Erscheinen brachten die Frankfurter Allgemeine Zeitung und DIE ZEIT Rezensionen, so daß es zu zahlreichen Bestellungen aus aller Welt kam und das Unternehmen schnell zu einem wirtschaftlichen Erfolg wurde. Das Verhältnis von Angebot und Nachfrage war in diesem Fall stimmig. Es war schön zu erleben, daß nicht nur viele Kunden die Hamann-Ausgabe bestellten, sondern daß etliche auch ihre große Freude über den Reprint zum Ausdruck brachten.

 

3. Gegenwärtige Lage und Zukunftsaussichten des Buchhandels

Im vorangegangenen Teil, als ich von meinen persönlichen Erfahrungen berichtet habe, bin ich bereits auf die gegenwärtige Lage des Buchhandels eingegangen, insbesondere auch auf den Handel mit theologischer Literatur. Nun möchte ich noch einmal den Blick weiten und auf die gegenwärtigen Bedingungen des Buchhandels im Allgemeinen eingehen, wobei auch aktuelle Probleme und die Zukunftsaussichten ins Auge gefaßt werden sollen. Versuchen wir in wenigen Stichworten eine gegenwärtige Bestandsaufnahme des deutschen Buchhandels im Jahr 2005. Bei rund 800.000 Titeln sind 2005 89.869 Neuerscheinungen (Erstauflagen und Neuauflagen) auf den Markt gekommen – ein neuer Rekord. Der gesamte Jahresumsatz des deutschen Buchhandels betrug 9,159 Milliarden Euro. Zum Vergleich der Größenordnung: das ist noch nicht einmal die Hälfte dessen, was die deutschen Filialen von Aldi im Jahr umsetzen. Gut die Hälfte davon, 54,8 %, macht der Sortimentsbuchhandel aus; daran sehen Sie, daß die Buchhandlungen nicht den einzigen Vertriebsweg für Bücher darstellen. Einen erheblichen Teil des Gesamtumsatzes, nämlich 17,6 %, erzielen die Verlage durch den direkten Vertrieb an Letztabnehmer. 11,2 % der Bücher laufen derzeit über den Versandhandel (darin auch vor allem: über das Internet), 4,3 % über Warenhäuser, 3,2 % über Buchgemeinschaften, 8,9 % über sonstige Verkaufsstellen – denken Sie dabei z.B. an Ratgeber im Baumarkt, Reiseführer an der Tankstelle, Kochbücher im Haushaltsgeschäft, Gesundheitsbücher in der Drogerie und „Harry-Potter“-Bücher in Supermärkten. Betrachtet man die Anteile der Warengruppen am Gesamtumsatz der Buchbranche, dann entfallen 7,7 % auf naturwissenschaftliche und 7,4 % auf geistes- und sozialwissenschaftliche Fachbücher. Für den Bereich Religion wird eine Zahl von 4,5% genannt. Für die theologisch-wissenschaftlichen Bücher gibt es keine Zahlen und Schätzungen; wir müssen eine Größenordnung von deutlich unter 1 % annehmen.

Unter der Voraussetzung, daß das Buch als Kulturgut einen hohen Rang einnimmt, sind die in Deutschland geltenden gesetzlichen Bestimmungen zu würdigen, welche zu den besonderen Rahmenbedingungen des deutschen Buchhandels gehören. Das beginnt mit dem Grundgesetz und der in Artikel 5 verankerten Meinungs-, Informations- und Pressefreiheit sowie der Freiheit in Kunst und Wissenschaft. „Eine Zensur findet nicht statt“. Ich möchte einige andere Punkte nennen, die auch ökonomisch relevant sind. Was Sie alle kennen, ist die „Büchersendung“ bei der Post, die bei einem Gewicht bis 1 kg günstiger ist als andere Versandformen. Ferner denke ich dabei an den reduzierten Mehrwertsteuersatz, der z.B. für die meisten Nahrungsmittel, aber auch zur Förderung und Wahrung des Kulturgutes Buch gilt. Im Herbst 2005, als es um die von der großen Koalition geplante Mehrwertsteuererhöhung ging, stand diese Regelung auf der Kippe. Inzwischen ist klar: Auch nach dem 1.1.2007 werden Bücher nur mit 7 % belastet. Des weiteren ist als ökonomische Besonderheit des deutschen Buchhandels die Buchpreisbindung zu erwähnen. Die Preisbindung für Bücher war noch zu der Zeit meiner ersten Jahre als Buchhändler eine vertraglich festgelegte, brancheninterne Regelung. Das konnte wegen rechtlicher Bedenken, die nicht zuletzt auf europäischer Ebene bestanden, nicht so bleiben. So kam es zum „Gesetz über die Preisbindung für Bücher“, das am 1.10.2002 in Kraft trat. Damit ist die Buchbranche der einzige wirtschaftliche Sektor in Deutschland, für den eine Preisbindung gesetzlich vorgeschrieben ist. Der Gesetzgeber hat wohl die Notwendigkeit gespürt, gleich im §1 des Buchpreisbindungsgesetzes den „Zweck des Gesetzes“ zu bestimmen: „Das Gesetz dient dem Schutz des Kulturgutes Buch. Die Festsetzung verbindlicher Preise beim Verkauf an Letztabnehmer sichert den Erhalt eines breiten Buchangebots. Das Gesetz gewährleistet zugleich, daß dieses Angebot für eine breite Öffentlichkeit zugänglich ist, indem es die Existenz einer großen Zahl von Verkaufsstellen fördert“ (BuchPrG §1).

Hier begegnen wir erneut dem Stichwort: das Buch als Kulturgut. Und wir begegnen zwei der wichtigsten Argumente, die für die Buchpreisbindung ins Feld geführt werden. Beide Argumente beziehen ihre Überzeugungskraft aus den Konsequenzen, die als Folge freier Buchpreise zu befürchten sind: Erstens würde die Zahl der Buchhandlungen in Deutschland erheblich zurückgehen. Insbesondere die kleinen und mittleren Buchhandlungen wären akut gefährdet. Schon jetzt wachsen nur die großen Buchkaufhäuser wie Thalia und Weltbild in einem nennenswerten Umfang, vor allem durch Übernahme von bestehenden Buchhandlungen und durch Neugründung von Filialen (Thalia bald auch in Reutlingen). Zweitens würde die derzeitige Titelvielfalt der Verlage spürbar zurückgehen, da die Quersubventionierung von besonders gut und weniger gut laufenden Titeln immer schwieriger würde. Auch wenn die Verlage nicht so sehr in ihrer Existenz bedroht wären wie die vielen klei-nen und mittleren Buchhandlungen, so müßten auch sie sich erheblich um-stellen und sehr viel vorsichtiger agieren. „Books are different“ – dieser Leitsatz eines englischen Gerichtsurteils (Lucius, 15) begründet anscheinend auch einen kraft Gesetzgebung gesicherten ökonomischen Sonderstatus. Wenn Sie mich nach meiner Einstellung dazu fragen, so muß ich vorneweg sagen: Ich bin kein Gegner der Buchpreisbindung. Und doch bin ich skeptisch, was die weitere Entwicklung angeht. Wie wir im Herbst 2005 schon im Blick auf den reduzierten Mehrwertsteuersatz ein Schwanken in der politischen Meinung feststellen mußten, ist das Bewußt-sein vom Buch als Kulturgut, das des Schutzes und der Förderung bedarf, im Schwinden begriffen. Und das betrifft längst nicht mehr nur die nationale und europäische Politik und Bürokratie. Auch das Kaufverhalten der Kunden hat sich gewandelt. Die Zahl der „Bücherwürmer“ und „Kulturbeflissenen“ unter den Käufern geht zurück, das Buch wird zu einem Artikel unter vielen. Andere Medien wie Audio-CDs, CD-ROMs und DVDs unterliegen nicht der Preisbindung; außerdem werden sie mit 16, bald mit 19 % besteuert. Und auch unter den Buchhändlern und Verlegern selbst greift allen anderslautenden Sonntagsreden zum Trotz eine Mentalität immer mehr um sich, die das Buch nur noch als Ware sieht. Ich möchte an dieser Stelle keine Namen nennen. Aber ich möchte doch betonen, daß der deutsche Buchhandel selbst kräftig an dem Ast sägt, auf dem er sitzt. Wenn die Buchpreisbindung nicht durch politische Vorgaben fällt, z.B. durch europäische Vereinheitlichungen und Bereinigungen des Marktes, wird sie vermutlich bald schon von innen ausgehöhlt sein und in sich zusammenstürzen: und zwar genau durch die Branche, auf deren Betreiben das Gesetz einst zustande kam.

Nun droht aber seit neuestem noch von ganz anderer Seite Ungemach für die wissenschaftlichen, auch die theologischen Fachverlage. Ich meine die dramatischen Veränderungen, die in den letzten 3 Jahren auf dem Feld des Urheberrechts stattgefunden haben und gerade dabei sind, weiter um sich zu greifen. Speziell Universitätsverlagen macht das neu gefaßte Urheberrecht in den §§ 52a und 53 zu schaffen. Demnach dürfen Bibliotheken Teile von Druckerzeugnissen (also von Büchern und Zeitschriften) digitalisieren und einem geschlossenen Nutzerkreis (Intranet) zur Verfügung stellen. Die meisten der knapp 200 wissenschaftlichen Verlage in Deutschland sehen ihre Zeitschriften und speziellen Monographien sowie Enzyklopädien hochgradig gefährdet. Dr. Georg Siebeck, der Inhaber des hier in Tübingen ansässigen Wissenschaftsverlags Mohr-Siebeck, warnt bereits seit mehreren Jahren vor den hier lauernden Gefahren und setzt sich für eine Novellierung des Urheberrechts ein, die die Enteignung der Autoren und Verleger verhindern soll. Wenn Sie auf diesem Gebiet Informationen aus erster Hand haben und ein kompetentes Urteil hören wollen, rate ich Ihnen, Herrn Dr. Siebeck ebenfalls einmal ins Stift einzuladen.

Zur Zeit laufen einige Musterprozesse zum Urheberrecht. Einer davon betrifft die Volltextsuche im Internet. Sie haben vermutlich schon davon gehört: In den USA scannt Google seit einiger Zeit auch Werke von deutschen Verlagen – und zwar ohne Genehmigung –, um sie dann in Form von Ausschnitten im Internet zugänglich zu machen. Während sich Google auf die Besonderheiten des amerikanischen Urheberrechts beruft, ist die Digitalisierung aus Sicht europäischer Verlage ein klarer Verstoß gegen das Urheberrecht. Die Wissenschaftliche Buchgesellschaft hatte deshalb mit Unterstützung des Börsenvereins eine einstweilige Verfügung gegen Google vor dem Hamburger Landgericht beantragt. Vor wenigen Wochen mußte die Wissenschaftliche Buchgesellschaft ihren Antrag zurückziehen, weil keine Aussicht auf Erfolg bestand. Dieser Fall war selbst der Tagesschau eine Nachricht wert; ein breites Presseecho folgte. „Frisst Google Kulturgut?“, fragte kürzlich „DIE ZEIT“. In der „Weltwoche“ wurde Anfang Juli ein Artikel des amerikanischen Zukunftsforschers Kevin Kelly aus dem „New York Times Magazine“ abgedruckt. Titel: „Und alle Bücher werden eins“. Darin beschreibt er als Vision den Traum einer digitalen Weltbibliothek aller Zeiten und Kulturen – ein Traum, der an der in der Antike für ihre Bücherschätze berühmten Bibliothek von Alexandrien anknüpft. In einigen Ländern, vor allem in den USA und in China, werden ohne Rücksicht auf das Urheberrecht täglich tausende von Büchern gescannt und digital verarbeitet. Die digitale Universalbibliothek soll in nicht allzu ferner Zukunft allen Menschen an allen Orten und zu jeder Zeit zur Verfügung stehen. „Open access“ lautet dabei die Devise. Alle Informationen sollen frei und kostenlos zugänglich gemacht werden.

Daß eine Novellierung des Urheberrechts dringend nötig ist, wird allent-halben anerkannt. Im Streit um das Urheberrecht spiegelt sich ein grund-legender Umbruch im wissenschaftlichen Publizieren wider: „Die traditionelle Arbeitsteilung zwischen Wissenschaftlern [Autoren], Verlagen und Bibliotheken ist im Zeitalter des Internet kräftig durcheinander geraten. … Das wissenschaftliche Publikationswesen ist also mächtig in Bewegung gekommen, doch wohin die Reise geht, weiß niemand. Die Wissenschaftsverlage eint die Angst, ihnen könnte ein ähnliches Schicksal bevorstehen wie der Musikindustrie: Jugendliche, die Musikstücke über das Internet tauschen können, kaufen weniger CDs – Forscher, die über das Internet Fachartikel verbreiten, brauchen weniger Zeitschriften. Das hätte zur Folge, daß die Bibliotheken Abos abbestellen und am Ende die kleinen Verleger Pleite gehen“. Die Zahl der betroffenen Verlage liegt je nach Schätzung zwischen 130 und 190; die meisten verdienen ihr Geld mit Kleinstauflagen von Dissertationen oder hoch spezialisierten Zeitschriften (Max Rauner: Bleiben die Regale künftig leer?, in: DIE ZEIT 10.4.2003, Nr. 16).

Muß man im Zusammenhang mit der oben beschriebenen Situation im Verlagswesen und auf dem Büchermarkt eine zunehmende Ökonomisierung der Wissenschaft befürchten? Das ist eine hochkomplexe Frage, die nicht so einfach zu beantworten ist. Aber ich möchte die Frage heute Abend dennoch einfach beantworten: nämlich mit einem klaren Nein. Nein, vom Verlagswesen und vom Buchhandel ist keine Ökonomisierung der Wissenschaft zu befürchten. Die Symbiose von Wissenschaft, Verlagswesen und Buchhandel ist in Jahrhunderten gewachsen und ist zum allseitigen Nutzen ausgewogen. Sie wird auch bestehen bleiben, solange es Bücher gibt. Im (1.) Teil habe ich Ihnen ja zeigen wollen, in welcher Weise Buchhandel und Verlagswesen die Literatur fördern und auch und gerade für die wissenschaftliche Literatur unentbehrlich sind. Klar ist auch, daß Bücher machen und mit Büchern handeln Geld kostet – und daß damit Geld verdient werden muß, damit eine solche Tätigkeit attraktiv bleibt. Kaum einer wird Bücher verlegen und mit Büchern handeln wollen, wenn sich dies nicht mehr wirtschaftlich rechnet. Also besteht jetzt die Aufgabe, die Rahmenbedingungen für wirtschaftliches Verlegen nicht durch Gesetzesänderungen außer Kraft zu setzen, sondern im Verhältnis zu den digitalen Techniken ein neues Gleichgewicht zu schaffen. Die Situation heute erinnert an die Zeit, als der Buchdruck noch in der Wiege lag (Inkunabel bedeutet Wiegendruck) und die sog. „Raubdrucke“ an der Tagesordnung waren. Es hat lange gedauert, bis das Urheberrecht eine Selbstverständlichkeit war. Heute reden die Verlage von Diebstahl, wenn es um das Digitalisieren ohne Genehmigung und ohne angemessene Vergütung geht. Die Verlage wären mißverstanden, wenn man ihnen unterstellen würde, sie verschlössen sich dem neu angebrochenen Zeitalter der Digitalisierung. Längst haben die meisten sich darauf eingestellt. Aber sie wollen eben im eigenen Interesse und im Interesse ihrer Autoren sowie im Interesse an professionell gemachten Büchern verhindern, daß ihnen ihre eigenen Produkte entrissen und in digitales Freiwild verwandelt werden. Wir dürfen alle gespannt sein, wie die Geschichte weitergeht.

 

4. Theologische Bücherkunde und eigene Lektüre

Sie kennen vermutlich Friedrich Schleiermachers „Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen“ (1810, 21830). In der Einleitung kommt Schleiermacher u.a. auch auf Fragen der theologischen Enzyklopädie zu sprechen und erwähnt in diesem Zusammenhang „die theologische Bücherkunde“ (Kritische Ausgabe herausgegeben von Heinrich Scholz, Darmstadt 41977 = Leipzig 31910, § 18, 7). Im theologischen Studium ist nicht zuletzt die „Bekanntschaft mit den Hilfsmitteln“ unerläßlich – und zu diesen Hilfsmitteln zählen auch heute noch in hervorragender Weise die Bücher. Und wie könnte es anders sein, gehören doch die Christen wie die Juden und die Muslime zu den „Leuten des Buchs“ (wie die Bezeichnung im Koran lautet), und bezieht sich auch die christliche Theologie in allen ihren Disziplinen auf die Bibel. Die Bibel selbst stellt eine ganze Bibliothek von Büchern und Schriften dar, die in einem Zeitraum von über 1000 Jahren entstanden sind. Im Buch Kohelet lesen wir „Des vielen Büchermachens ist kein Ende“ (12,12). Ist es nicht erstaunlich, daß wir diesen alten biblischen Satz auch heute noch in unserer modernen Kultur unmittelbar zu verstehen meinen? Vermutlich ist die Erfahrung, daß des „vielen Büchermachens kein Ende“ ist, so alt wie die Buchkultur überhaupt und wird uns begleiten, solange eine Buchkultur besteht. Dem Wortlaut nach handelt es sich zunächst um eine nüchterne Feststellung, mit der ein kaum bestreitbarer Sachverhalt ausgesprochen wird – ähnlich wie in der unmittelbar darauf folgenden Feststellung, daß viel Studieren den Leib ermüdet (Vers 12c). Dem Kontext nach handelt es sich um eine Warnung an den Schüler der weisheitlichen Tradition, der mit „mein Sohn“ angesprochen wird. „Und überdies, mein Sohn, laß dich von ihnen [den Weisen] warnen“ (Vers 12a). „Des vielen Büchermachens ist kein Ende!“ Was ursprünglich primär eine Warnung war, mag heute so manchem engagierten Verleger, Buchhändler und Bücherfreund wie eine Verheißung klingen. „Des vielen Büchermachens ist kein Ende!“ An der Geschichte der Bibel ist abzulesen: Im Laufe der Zeiten haben sich die Materialien der Vervielfältigung und der Buchformen gewandelt, und trotz aller Wandlungen ist der biblische Text ohne Unterbrechung bis zu uns heute weitertradiert worden. Das wird gewiß auch in der Zukunft der Fall sein. Die 10 Gebote, so sagt die Überlieferung, wurden von Gott selbst auf Steintafeln niedergeschrieben. Geschrieben wurde in der Antike auf Stein- und Tontafeln, auf Papyrus und Pergament, später auf Papier. Als Buchformen können wir die Buch-Rolle nennen, in christlicher Zeit kam der Kodex hinzu, die Vorform des Buches, wie wir es heute kennen. Als Gutenberg in der Mitte des 15. Jahrhunderts den Buchdruck mit beweglichen Lettern erfand, druckte er als erstes Buch die Bibel. Die Bibel ist auch eines der ersten Bücher gewesen, das digitalisiert wurde und auf diese Weise mit früher ungeahnten Möglichkeiten zur Verfügung steht: in den Ursprachen, in zahlreichen deutschen und fremdsprachigen Übersetz-ungen, und dazu noch mit allen gewünschten Hilfsmitteln wie Wörterbücher und Lexika. Und Sie können sich natürlich auch die ganze Bibel vorlesen lassen: Sie brauchen dazu heute nur noch einige wenige Audio-Mp3-Discs. Daran wie das Buch der Bücher auch in digitaler Gestalt sein Zukunftspotential entfaltet, ist ablesbar, wie eine einzige Weltbibliothek aller Bücher in nicht ferner Zukunft existieren könnte. Der eigentliche Clou dabei ist nicht nur die digitale Gestalt überhaupt, sondern die ungeahnten Möglichkeiten der Verbindungen: der Vernetzung, der links und tags. So wie innerhalb kürzester Zeit im Internet eine Online-Enzyklopädie aufgebaut wurde (Wikipedia), ist es ja z.B. denkbar, einen Online-Kommentar zur Bibel zu schreiben, an dem jeder mitschreiben und den jeder nutzen kann – und wer weiß, vielleicht bin ich noch nicht informiert und es wird schon daran gearbeitet? Doch zurück zu Schleiermacher.

Wenn Schleiermacher von der theologischen Bücherkunde spricht, so hat er gewiß diejenigen Aspekte der Bücherkunde vor Augen, die Ihnen allen aus Ihrem Studium bereits bekannt sind und die ich darum auch als bekannt voraussetzen darf. Ich denke dabei zum Beispiel an bibliographische Grundkenntnisse, an die Frage: Wie suche und finde ich Literatur zu meinem Thema? Oder auch: Nach welchen Kriterien bestimme ich meine Lektüre? Wie kann ich einen sinnvollen Lektüre-Plan in meinem Studium entwickeln und befolgen? Oder wenn mir ein gewisser Etat für Bücher zur Verfügung steht: Wie baue ich mir zu Studienzwecken eine eigene Handbibliothek auf? Will ich dabei auf gedruckte Bücher setzen? Wenn Sie diese Frage bejahen, stehen Sie vielleicht selbst mit ihrer theologischen Literatur-Wunschliste im Spannungsfeld von Wissenschaft und Ökonomie, was nämlich die Privat-Ökonomie des eigenen Geldbeutels betrifft. Zu all dem könnte ich Ihnen etwas sagen, aber ich muß mich beschränken und möchte Sie darum an dieser Stelle nur ermutigen, die Zeit des Studiums auch als eine großartige Möglichkeit zum Eindringen in die Welt der Bücher und zur persönlichen Lektüre anzusehen. Denn ob der Text auf Papier gedruckt ist oder auf einem Bildschirm erscheint – die eigene Lektüre ist so unersetzbar wie das eigene Denken. Eine Zukunft, in der die digitalen Texte gleich per Kabel oder irgendwelche Sender in unser Hirn eingespeist werden, wollen wir uns erst gar nicht vorstellen. Also: Mag der Träger des Textes variieren (in der Antike war es Papyrus, im Mittelalter Pergament, später Papier, in Zukunft neben dem Papier, das erhalten bleiben wird, verstärkt elektronische Datenträger) – das Lesen, das Aufsuchen und Auswählen, was man lesen will, bleibt im wesentlichen gleich.

Ich möchte Ihnen also zurufen, was einst Augustinus zu hören meinte: Tolle, lege! Nimm und lies! Lesen Sie mit soviel Interesse, Schwung und Enthusiasmus wie nur irgend möglich! Wenn alles gut geht, entwickeln Sie die Gewohnheit, immer ein Buch zur Hand zu haben, und Sie werden von dieser guten Gewohnheit auch später nicht mehr lassen wollen, wenn Sie einmal durch Ihren Beruf in Anspruch genommen sind und Ihr Terminkalender keine Mußestunden zur Lektüre vorzusehen scheint. Nimm und lies! Der Buchhändler ist versucht hinzuzufügen: Nimm und lies – ich halte viele Bücher für Dich bereit. In Zukunft bedeutet „Nimm und lies“ vermutlich zunehmend die Online-Recherche im Internet oder die Benutzung eines i-pods, auf dessen harddisk vielleicht eines Tages eine ganze theologische Bibliothek gespeichert sein wird. Denken Sie ruhig hin und wieder darüber nach, in welcher Form Sie lesen wollen, welche Medien für Sie infrage kommen. Denn wie die Zukunft der Bücher jenseits aller Spekulationen wirklich aussehen wird, werden Sie als Nutzer, als Kunde und als Leser entscheidend mitbestimmen. Welche Nutzungsgewohnheiten werden Sie entwickeln und bevorzugen, wofür werden Sie bereit sein wieviel zu bezahlen, welche Form des Umgangs mit Texten wird Ihnen auf die Dauer Freude machen? Diese Fragen kann ich nicht für Sie beantworten; ich will Ihnen aber einen Rat mitgeben, den Martin Luther in seiner Schrift „An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung“ (1520) so formuliert hat: „viele Bücher machen nicht gelehrt, vieles Lesen auch nicht, sondern gute Bücher und diese oft lesen, wie wenig es auch sind, das macht gelehrt in der Schrift und fromm dazu“ (Martin Luther, Von christlicher Freiheit. Schriften zur Reformation, Übertragen und kommentiert von Horst Beintker, Zürich 1990, 357 = WA 6, 461). Oder in abgewandelter Form an anderer Stelle, in der Vorrede zum I. Band der deutschen Schriften (1539), an der Luther drei Dinge nennt, die im Blick auf das Theologiestudium unverzichtbar sind: Gebet, Meditation und Anfechtung – zur Meditation: „Zum zweiten sollst du meditieren, das ist: nicht allein im Herzen, sondern auch äußerlich die mündliche Rede und die Worte im Buch dem Buchstaben nach immer wiederholen, lesen und noch einmal lesen, mit fleißigem Aufmerken und Nachdenken, was der Heilige Geist damit meint. Und hüte dich, daß du dessen nicht überdrüssig werdest, oder denkest, du habest es mit einem oder zwei Mal genug gelesen, gehört, gesagt, und verständest es alles von Grund auf. Denn da wird nimmermehr ein besonderer Theologe daraus, sie sind wie das unreife Obst, das abfällt, ehe es halb reif wird“ (Luther Deutsch, Die Werke Martin Luthers in neuer Auswahl für die Gegenwart herausgegeben von Kurt Aland, Band 1: Die Anfänge, Stuttgart und Göttingen 1969, 16 = WA 50, 659).

Schließen möchte ich mit einer Geschichte aus der Antike, die Diogenes Laertius erzählt. In dieser kleinen Geschichte wird deutlich, was eine Buchhandlung im besten Fall sein kann. Berichtet wird von Zenon von Kition (einer griechischen Kolonie auf Zypern), der Schüler des Krates war und in der Philosophiegeschichte zu den Begründern der Stoa zählt (um 300 v.Chr.): „Dem Krates war er [Zenon] auf folgende Art nahegetreten: Er hatte in Phönizien Purpur eingekauft und litt damit nahe an Peiraieus [Hafen von Athen] Schiffbruch. Da ging er nach Athen hinauf und ließ sich – bereits dreißig Jahre alt – bei einem Buchhändler nieder, der gerade das zweite Buch der Xenophontischen Denk-würdigkeiten las; freudig überrascht erkundigte er sich, wo Männer dieser Art zu finden seien. Ein glücklicher Zufall wollte es, daß gerade Krates vorüberging; der Buchhändler wies auf ihn hin und sagte: ‚Diesem schließe dich an’. Von da an war er Hörer des Krates, im übrigen ein energisch strebsamer Jünger der Philosophie“ (Diogenes Laertius, Leben und Meinungen berühmter Philosophen, VII/1/2-3, Hamburg 21967, Band 2, 8).

Ich danke Ihnen für Ihre Geduld und Ihre Aufmerksamkeit.

 

Literaturhinweise:

Luciano Canfora, Die verschwundene Bibliothek. Das Wissen der Welt und der Brand von Alexandria, Hamburg 2002

Sabine Cronau, Korb voller Probleme [zum Urheberrecht], in: Börsenblatt. Wochenmagazin für den Deutschen Buchhandel 173. Jahrgang 29. Juni 2006 Heft 26, 20-25

Sabine Cronau, Am Puls der Branche. Buch und Buchhandel in Zahlen [2005], in: Börsenblatt. Wochenmagazin für den Deutschen Buchhandel 173. Jahrgang 13. Juli 2006 Heft 28, 39-50

Diogenes Laertius, Leben und Meinungen berühmter Philosophen, Hamburg 21967

Umberto Eco, Das Foucaultsche Pendel, München und Wien 1989, Kapitel 38-39, 281-294

Wolfgang E. Heinold / Ulrich Spiller: Der Buchhandel in der Informations-gesellschaft, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B12-13/2004, 30-38

Helmut Hiller / Stephan Füssel, Wörterbuch des Buches, Sechste grundlegend überarbeitete Auflage, Frankfurt am Main 2002

Jean-Noel Jeanneney, Googles Herausforderung. Für eine europäische Bibliothek, Berlin 2006

Kevin Kelly, Und alle Bücher werden eins, in: Die Weltwoche 74. Jahrgang 6. Juli 2006 Nummer 27, 48-55 [original in: The New York Times Magazine]

Dietrich Kerlen, Der Verlag. Lehrbuch der Buchverlagswirtschaft, Stuttgart 2005

Martin Kersting, Alte Bücher sammeln. Ein praktischer Leitfaden durch die Buchgeschichte und die Welt der Antiquare, 2. neubearbeitete und erweiterte Auflage, München 2001

Wulf D. von Lucius, Verlagswirtschaft. Ökonomische, rechtliche und organisa-torische Grundlagen, Konstanz 2005

Martin Luther (Luther Deutsch), Die Werke Martin Luthers in neuer Auswahl für die Gegenwart herausgegeben von Kurt Aland, Band 1: Die Anfänge, Stuttgart und Göttingen 1969

Martin Luther, Von christlicher Freiheit. Schriften zur Reformation, Übertragen und kommentiert von Horst Beintker, Zürich 1990

[Friedrich Perthes,] Der deutsche Buchhandel als Bedingung des Daseyns einer deutschen Literatur, [ohne Ort] 1816

Max Rauner: Bleiben die Regale künftig leer?, in: DIE ZEIT 10.4.2003, Nr. 16

André Schiffrin, Verlage ohne Verleger. Über die Zukunft der Bücher, Mit einem Nachwort von Klaus Wagenbach, Berlin 2000

Friedrich Schleiermacher, Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen (1810, 21830), Kritische Ausgabe heraus-gegeben von Heinrich Scholz, Darmstadt 41977 (= Leipzig 31910)

Georg Siebeck, Enteignung der Autoren und Verleger, datiert 4. März 2003 (11.7.2006), im Internet unter: http://www.mohr.de/enteignung/

Friedrich Uhlig / Wolfgang Peitz, Der Sortimentsbuchhändler. Ein Lehrbuch für junge Buchhändler, Neu bearbeitet und herausgegeben von Wolfgang Peitz, Stuttgart 191992

Klaus Walther, Bücher sammeln (dtv Kleine Philosophie der Passionen), München 2004

Bernhard Wendt / Gerhard Gruber, Der Antiquariatsbuchhandel. Eine Fachkunde für Antiquare und Büchersammler, Vierte von Gerhard Gruber neu bearbeitete Auflage, Stuttgart 2003

Hans Widmann, Geschichte des Buchhandels vom Altertum bis zur Gegenwart. Die Entwicklung in Umrissen auf Grund der Darstellung von Ernst Kuhnert neu bearbeitet und erweitert, Wiesbaden 1952

copyright 2006 Dr. Hans-Peter Willi

 

Leo Tolstoi, Krieg und Frieden (1868/69)

„Ich habe einen Kurs im Schnellesen mitgemacht und bin nun in der Lage, „Krieg und Frieden“ in zwanzig Minuten zu lesen. Es handelt von Russland.“

Als Hochschulpfarrer Dr. Hörnig mir von der ESG-Predigtreihe im WS 2008-2009 in der Tübinger Stiftskirche erzählte und mir die Liste der zugrundegelegten Bücher zeigte, habe ich mir Tolstois Roman „Krieg und Frieden“ ausgesucht, weil ich diesen noch nicht gelesen hatte, aber Gefallen an dem Gedanken fand, diesen Zustand zu ändern. Allerdings wollte ich dabei nicht dem „Rat“ von Woody Allen (siehe oben) folgen und das „Schnellesen“ anwenden. So dauerte meine Lektüre nicht 20 Minuten, sondern gut 2 Monate.

Ein großartiges Werk, das ich gerne zur Lektüre empfehle! Ein „historischer Roman“, der in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts spielt – und weit mehr als das! Beeindruckt hat mich, wie nicht nur das umwälzende äußere Geschehen – eingespannt zwischen den gewaltigen Extremen „Krieg und Frieden“ – geschildert wird, sondern auch die nicht weniger umwälzenden inneren Ereignisse im Leben einzelner Personen, die eingespannt sind in den nicht minder großen Gegensätzen von Tod und Leben, Haß und Liebe, Verzweiflung und Glaube.

„Wir denken immer, wenn wir von unserem ausgetretenen Gewohnheitspfad geworfen werden: jetzt ist alles verloren! Und gerade dann fängt doch für uns das Neue, das Bessere an“.

Leo Tolstoi, Krieg und Frieden, Buch 2, Teil 7, Kapitel 18

Da ich gerne ein Buch mit jemandem zusammen lese, machte ich mich auf die Suche nach einem Mitleser, den ich dann in Hartwig Mybes fand. Darüber habe ich mich ebenso sehr gefreut wie über seine Bereitschaft, das Buch aus seiner Sicht auf dieser Seite kurz vorzustellen. Herzlichen Dank für diese schöne Team-Arbeit! H. P. Willi

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„Es herrscht Krieg. Orte des Geschehens sind St. Petersburg, Moskau, diverse Schlachtfelder in Europa. Napoleonische Truppen rücken vor, werden letztlich zurückgeschlagen. Im Mittelpunkt stehen zwei Familien des russischen Adels, beschrieben in jeweils drei Generationen.

Die „geadelte“ Kultursprache Französisch steht im Gegensatz zu dem militärischen Geschehen. Wohlstand und Armut, Hunger und Tod werfen historische und religiöse Fragen auf. Eine Antwort läßt sich nicht finden, eher die resignierte Einsicht: Es ist alles entschieden. Bereits vor dem, was wir später als Tatsache, als Gegebenes anerkennen. Die Frage nach der Vorher-Bestimmung drängt sich auf.

Der Krieg ist beendet. Ist das jetzt der Frieden? Vom Krieg wissen wir. Was aber ist Frieden? Mit mir selbst? Mit anderen? Mit Gott?“

Hawi My

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Phantomschmerz in der Irre

Philip Roth: Verschwörung gegen Amerika. Roman, dt. Werner Schmitz; München/Wien: Carl Hanser 2005 [am. 2004]. 432 S.

Philip Roth ist kein großer Schriftsteller, – ist ein großer Schriftsteller, die kontradiktorischen Resümees gehen mir abwechselnd im Kopf herum, während ich zum soundsovielten Mal dem, wie soll ich sagen, ehrlichen Falschspiel des Autors mit den längst bekannten biographi-schen und historischen Materialien in Romanform folge. Er hat keine Sprache, er hat die Sprache eines Journalisten, ist natürlich besser als jeder Journalist in der Organisation des Stoffs, vom einzelnen Statement über die jähen Pointen bis zum ausgekochten Plot – das Wort taucht diesmal auch im Titel auf, The Plot Against America, Mehrdeutigkeit zu sehr reduzie-rend übersetzt als Verschwörung gegen Amerika –, und läßt sich doch jederzeit ins raffiniert gemischte Blatt schauen, macht den Fake als Fake kenntlich: die Sätze „Das Pogrom hatte begonnen“ und „Es hatte […] kein Pogrom in Newark gegeben“ stehen auf zwei einander folgenden Seiten. Der fiktive Grundeinfall, Pilot und Nationalheld Lindbergh, der auch ein Antisemit und Nazifreund war, habe als fingierter Kandidat der Republikaner (statt in Wirk-lichkeit Willkie) bei den Präsidentenwahlen im Herbst 1940 über Roosevelt gesiegt (statt um-gekehrt), dessen interventionistische durch eine isolationistische außenpolitische Linie ersetzt und zunächst verdeckt die offensive Virulenz des latent vorhandenen populären Antisemitis-mus entfesselt und gefördert, wird für zwei Geschichtsjahre aus der Perspektive eines vorpu-bertären Jungen und seiner jüdischen Familie, die in der Zerrissenheit und Widersprüchlich-keit ihrer Haltungen und Reaktionen die Situation der bedrohten amerikanischen Judenheit zumal vor dem (in Wirklichkeit) zum Jahreswechsel 1941/42 vollzogenen Kriegseintritt der USA widerspiegelt, fortgesponnen bis zu den Vorformen von Deportation und Pogrom in einem imaginären Jahr 1942, dergestalt eine amerikanische Parallelgeschichte zu den ersten deutschen Jahren nach Hitlers Machtergreifung mehr als frech und ungemein lehrreich zugleich exponierend. Daß die erfundene historische Hintergrundrealität zwischen 1940 und 1942 aus einer Luft gegriffen ist, die realiter der antisemitischen Gespenster voll war, weiß der aufmerksame deutsche Leser etwa der Tagebücher Thomas Manns oder des Briefwechsels Horkheimers und Adornos, welche die dritte Wiederwahl Roosevelts wie eine Erlösung be-grüßten; Roth sorgt umsichtig dafür, daß die epische Parallele nicht schematisch konstruiert, sondern in engster Tuchfühlung mit Potentialen, die es in Amerika wirklich gab, also durch-aus in erheblicher Differenz von den deutschen Vorgängen zwischen 1933 und sagen wir 1939, ausphantasiert und die in kürzester Zeit ins Riesige und Totale wachsende Angst vor einer Vernichtung nicht nur der europäischen Juden – bis heute kann nicht gesagt werden, daß sie gegenstandslos wurde – nacherlebbar wird. Nacherlebbar wahrhaftig, und das ist so ver-rucht wie es klingt, die exakte retrograde Phantasie des Romanciers Roth so großartig wie diabolisch, und daß mit lauter unechten Elementen gearbeitet wird, wird in dem Moment ein-gestanden, wo der Leser sich unter den Suggestionen des Romans längst davon überzeugt hat, daß das Äußerste wenn nicht sich bewahrheitet hat, dann immer noch bewahrheiten kann. Roth bricht das nachträgliche Geschichtsexperiment im Oktober 1944 ab, man atmet nicht auf, der letzte Teil ist eine Nachbemerkung, welche die historischen Materialien dokumen-tiert, mit denen falsch gespielt worden ist, und die dem Leser den befreiten Ausruf: es ist alles nicht wahr, im Hals stecken lassen; just der deutsche Leser kann sich nicht antiamerikanisch trösten, die hundert Seiten des letzten Viertels lassen keinen Zweifel an der Überzeugung des Schriftstellers, daß Hitlers totalitärer Wahn, wie ansteckend immer, die Vereinigten Staaten als ganze nicht überwältigen konnte, aber deshalb ist die Gefahr nicht aus der Welt. Wenn man nicht stets guten Gewissens sich von der unwiderstehlichen Kolportage hat fortziehen lassen bis zum achten (von neun) Kapiteln, „Schlimme Zeiten“, hat man das auch jetzt unauf-lösliche Problem in sich aufgenommen, das hinter der vom Erzähler wörtlich ins Spiel ge-brachten antisemitischen Parole, die Juden verschuldeten ihr Schicksal selbst, sich verkapselt und welches der Erzähler provokant so formuliert: daß „den Antisemiten bei der erfrischen-den Lösung des größten Problems Amerikas in die Hände gearbeitet [ward], indem wir selbst hysterisch zu den Keulen griffen und uns dezimierten“; verschlüsselt: „Gewalt, erlebt man sie bei sich zu Hause, ist etwas Entsetzliches – wie der Anblick von Kleidern in einem Baum nach einer Explosion. Man mag darauf vorbereitet sein, den Tod zu sehen, aber nicht die Kleider in dem Baum.“ Um der herzzerreißenden Beschreibung der unschlichtbaren Span-nungen innerhalb einer der Verfolgung ausgesetzten jüdischen Familie willen, bis hin zu je-nem „völlig unerwarteten Gewaltausbruch, bei dem außer unserem Couchtisch auch [die] Schranke unbeugsamer Rechtschaffenheit zu Bruch gegangen war“, soll dies Kapitel in Deutschland gelesen werden, das ein großer Schriftsteller geschrieben hat. Es ist der Geist, in dem Drach den Roman über den Beginn des Nationalsozialismus in Österreich mit dem Satz beschloß: „Da wußte er plötzlich, daß er seine Mutter ermordet hatte“ – weil er sie, aus Grün-den, die man gut zu nennen pflegt, bei seiner Flucht ins Ungewisse in der Nähe ihrer Familie, aber auch der Bedrohung, der sie vorausstarb, zurückließ. Die Angst derer, die sie empfinden oder, sagen wir zagend, nachempfinden wollen, konzentriert sich heute auf die Bedrohung Israels. Der Autor Philip Roth hat sich der Zumutung, durch Phantasievariation seiner ameri-kanischen Sozialisation ein israelisches „Gegenleben“ sich zuzueignen, schon mehrfach un-terzogen; „Operation Shylock“ heißt der zwölf Jahre alte Roman, der mich als Hiesigen am meisten beeindruckte. Im Spiel gegen Amerika tritt er sich neuerdings näher als nah. Der deutsche literarisch und fürs jüdische Schicksal Interessierte muß die Romane von Kaniuk lesen; die von Roth soll er lesen. Der Schlußsatz des einstweilen letzten, durch die unglaubli-che Handlung beglaubigt, bezieht sich gegenständlich auf das Verhältnis des als Icherzähler fungierenden Knaben zu einem ungeliebten Kameraden, an dessen Unglück – er verliert auch die Mutter in den wirren antisemitischen Unruhen – er sich schuldig glaubt, und ist ineins die erschütternde Kurzformel fürs Verhältnis des Autors zur in ihrem europäischen Teil ausge-löschten Judenheit: er sei der Stumpf gewesen, ich die Prothese.

copyright 2005 Reinhard Schulte (Tübingen)

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